Masters of the Universe – Finanzkapitalismus auf der Bühne

Masters of the Universe – Finanzkapitalismus auf der Bühne

Krisen sind immer spannend für TheatermacherInnen. Schon immer gab es Stücke und Inszenierungen, die auf die Themen ihrer Zeit anspielten, und oft beschreiben alte Stücke sehr gut die heutige Zeit. Hier stelle ich eine persönliche Sammlung von Theatertexten, Videos und Inszenierungen zur Bankenkrise 2008 vor – und auch die Gründe für diese sanfte Besessenheit.

Die Krise

Im Jahr 2023 mehren sich im Zuge von Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation und mehr die warnenden Rufe vor einem nächsten Bankencrash – es scheint sich eine neue Finanzkrise auf dem Aktienmarkt anzubahnen. Der Sturz der Schweizer Bank Crédit Suisse und die darauffolgende subventionierte Fusion mit der UBS zuzüglich einer milliardenschweren Absicherung durch den Schweizer Staat scheint sie darin zu bestärken. Manche Medien sprechen von einer Blase, andere wägen diverse Faktoren gegeneinander ab und halten die Gefahr eines Zusammenbruchs dagegen für weniger wahrscheinlich.

Eine Sammlung informativer Artikel zum aktuellen Thema bietet Zeit online hier.

Doch viele erinnert dieses Szenario bereits an die Bankenkrise von 2008, obwohl dazu auch durchaus größere Unterschiede ausgemacht werden. Genauer gesagt befinden wir uns also möglicherweise in einer Bankenkrise 2.0. Gedanklich aber wirkt diese Bankenkrise von 2008 noch immer nach.

Krise und Theater

Die Bankenkrise 2008

Im Rahmen einer Theaterproduktion im Jahr 2010 konnte ich das Thema einer immer größer werdenden „Blase“ – gedanklich wie finanzökonomisch – recht zeitnah mit einer Produktion verbinden. Diese spielte originär auf einem verfallenden russischen Landgut, auf dem sich eine Gruppe von Individuen aus dem ignoranten und die gesellschaftliche Situation verkennenden, vormals wohlhabenden (Groß-)Bürgertum aufhält. Anton Tschechows „Platonov“  (geschrieben im Jahr 1878) verlegte ich auf eine heutige After-Work-Party von Zugehörigen des gehobenen Mittelstandes mit mehr oder weniger finanziellen sowie emotionalen Problemen.

DVD Wall Street 1987In diesem Zusammenhang habe ich den DarstellerInnen auch den Film „Wall Street“ von Oliver Stone aus dem Jahr 1987 empfohlen.

Hier gibt es eine gute Zusammenfassung der Hintergründe und Ursachen zur Bankenkrise 2008 (Youtube).

Dieser Dreh – aktuelle Geschehnisse über klassische Theaterstücke zu vermitteln oder andersrum: Theaterstücken eine Verbindung zur Gegenwart zu attestieren – ist schon oft verwendet worden, und darüber hinaus gibt es Original-Stücke, die sich einfach geradezu anbieten, Themen der heutigen Zeit zu thematisieren.

Krisen eignen sich für das Theater

Krisen eignen sich generell gut für die Bühne. Besonders in Konflikten und Gegensätzen kommen die eigentlichen, inneren Beweggründe der Figuren gut zum Vorschein, ihre Hybris, ihre seelischen Abgründe. Wenn sie dann scheitern, fallen sie tief.

Und je höher die Fallhöhe, desto tiefer das Miterleben beim Zuschauenden. Und die Erkenntnis – naja, zumindest im besten Fall. Jedenfalls nennt man diesen Vorgang die Katharsis.

Fallhöhe wird übrigens  ein eigener Beitrag.

Ich kann verraten: Fallhöhe ist gut!

Die Bankenkrise und das naturalistische Theater

Wie kam ich bloß auf den Naturalismus? Immerhin gab es diese Strömung im Theater nur von etwa 1880 bis 1900 als Reaktion auf das vorherrschende romantische Theater, und kaum ein zeitgenössischer Regisseur oder eine Regisseurin würde ein Stück heute ernsthaft naturalistisch inszenieren wollen – außer um diese Stilrichtung in irgendeiner Form zu brechen.

Inhaltliche Bezüge

Und doch sind die inhaltlichen Bezüge zu den ausgewählten Stücken und Filmen ziemlich naheliegend.

Die naturalistischen Stücke1Vorneweg Ibsens „Nora“ (1879) oder Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1892/93). konzentrieren sich auf die Darstellung des alltäglichen Lebens, häufig in den unteren sozialen Schichten, und thematisieren soziale Missstände, Armut, Krankheit, Alkoholismus und andere soziale Probleme. In den „Krisen-Inszenierungen“ haben wir es ebenfalls mit einem durchaus realitätsnahen Thema zu tun, und obwohl das geschilderte Milieu beileibe nicht die Unterschicht ist, so sind es doch oft die gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen Verwerfungen, die in den Stücken und Filmen im Zentrum stehen. Damit gewinnt das Thema absolut naturalistische Züge.

Während allerdings die Charaktere in naturalistischen Stücken als Produkte ihrer Umgebung betrachtet werden, deren Verhalten und Handlungen durch soziale und wirtschaftliche Faktoren bestimmt sind, ist dieser Standpunkt in den zu zeigenden Werken kaum zu halten. Im Gegenteil sind es immer die individuellen (Fehl-)Entscheidungen, die die Krise und den Absturz auslösen2Und dass man das doch wieder nicht verallgemeinern kann, siehe Kathrin Rögglas „Wir schlafen nicht“ in diesem Beitrag..

Naturalistische Inszenierung

Ich habe mal ChatGPT gefragt, wie so eine Bankenkrise im naturalistischen Theater inszeniert werden könnte, und fand die Antwort doch überraschend präzise (die Bilder sind von mir):

BankerAlltagsrealismus: Das naturalistische Theater strebt danach, die Realität so genau wie möglich abzubilden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Bankenkrise in einer realistischen Bankumgebung darzustellen. Die Bühne könnte eine Bankfiliale oder ein Büro einer Investmentbank sein, in dem die Probleme und Konflikte der Krise zwischen den Bankangestellten und Kunden deutlich werden. Die Dialoge und Aktionen der Charaktere sollten authentisch und realitätsnah sein, um die Zuschauer in die Welt der Bankenkrise einzuführen.

Dokumentarische Ansätze: Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dokumentarische Elemente in die Inszenierung einzubauen. Das naturalistische Theater kann historisches Material wie Zeitungsartikel, Fernsehberichte oder Aussagen von Politikern und Finanzexperten verwenden, um die Ursachen und Folgen der Bankenkrise zu vermitteln. Diese Elemente können auf verschiedene Weise präsentiert werden, zum Beispiel durch Projektionen auf einer Leinwand oder durch Einbindung von Videosequenzen.

LoserSoziales Umfeld: Naturalistisches Theater legt großen Wert auf die Darstellung sozialer Realitäten. Die Bankenkrise von 2008 hatte weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft, insbesondere auf Menschen, die ihre Jobs, ihr Zuhause oder ihre Ersparnisse verloren haben. Eine Möglichkeit besteht darin, das soziale Umfeld der Krise zu erforschen und die Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen zu zeigen. Die Inszenierung könnte Arbeitsplatzverluste, Zwangsräumungen oder soziale Proteste thematisieren, um die menschliche Seite der Krise zu verdeutlichen.

Symbolische Darstellung: Obwohl das naturalistische Theater nach realistischer Darstellung strebt, können auch symbolische Elemente eingeführt werden, um bestimmte Aspekte der Bankenkrise zu betonen. Zum Beispiel könnte die Bühne eine riesige, instabile Kartenstruktur darstellen, die die fragilen Finanzmärkte symbolisiert. Oder es könnten Schauspielerinnen und Schauspieler als Personifikationen von Gier, Korruption oder Macht auftreten, um die zugrunde liegenden Probleme der Krise zu verdeutlichen.“ (ChatGPT, persönliche Kommunikation, 19.05.2023)

Ich war doch recht beeindruckt von diesen Vorschlägen. Zumal noch der Nachsatz kam:

„Diese Ansätze sollen als Inspiration dienen. Letztendlich hängt die Darstellung der Bankenkrise im naturalistischen Theater von der künstlerischen Vision des Regisseurs, des Ensembles und des kreativen Teams ab.“ Sehr nett von der KI.

Jedenfalls halte ich die künstlerischen Produktionen zur Bankenkrise 2008 in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der damaligen Strömung des Naturalismus im 19. Jahrhundert und finde es spannend, die Gemeinsamkeiten herauszufiltern.

Die Stücke/ Filme/ Dokumentationen – und die Oper

Interessant ist, dass viele Werke im Vorfeld der sog. „Krise“ entstanden sind. Das könnte eine/n bestärken in der Annahme, dass „etwas in der Luft liegt“, dass KünstlerInnen schon verarbeiten, was demnächst akut wird?

Die folgenden Beschreibungen sind chronologisch absteigend.

Das Himbeerreich 2013 (Theaterstück)

Vorgehen

Im Nachgang der Bankenkrise hat sich der Dokumentarfilmer Andreas Veiel in die Recherche gestürzt und 25 Interviews mit ehemaligen und aktiven Akteuren der Finanzwelt geführt. Aus insgesamt 1400 Seiten Material destillierte er mit weiteren Dokumenten wie Zeitungsartikeln und Jahresberichten den literarisch-dokumentarischen Text „Das Himbeerreich“.

„Veiel befragte die Protagonisten nach ihrer Einschätzung der Krise ebenso wie nach ihren persönlichen Motiven und Antrieben. Was denken Vorstandsvorsitzende und Investmentbanker in Deutschland und weltweit über die Zukunft des internationalen Finanzsystems? Wie beurteilen sie das eigene Handeln und das der Regierungen? Aus den Lebensgeschichten und den Berichten der Banker entstand eine faszinierende Innenansicht jener Prozesse und Mechanismen, die unsere Gesellschaft und unser alltägliches Leben bestimmen.“ (Kulturstiftung des Bundes, Förderer).

Dokumentationen auf der Bühne

„Das Himbeerreich“ (nach einer Äußerung von Gudrun Ensslin, die mit dieser Metapher so etwas wie das Paradies auf Erden meinte) ist allerdings weniger ein Theaterstück geworden als eine Aneinanderreihung von Statements, Zweifeln, Anklagen und Selbstbeschau der fünf Investmentbanker (darunter eine Frau) zuzüglich einer Person von außen, dem Chauffeur. Kaum Dialoge – und eine Regie (habe auch kein anderes Beispiel gefunden), die sich nicht ein einziges Mal löst von der Vorstellung, wie Banker sein zu haben, nämlich im Kostüm und Anzug, in einer sterilen, geschäftsmäßigen Umgebung. Die Schauspieler monologisieren ohne Ende (was natürlich dem Stück geschuldet ist) und dürfen kaum ansatzweise  so etwas wie eine Rolle spielen.

Darin gleicht dieses Dokumentarstück denen von Ferdinand von Schirach, die auch jedes mal eine Zumutung sowohl für die SchauspielerInnen als auch das Publikum sind.

Solang keine frischere, theaternahe Form für Dokumentationen gefunden wird3vgl. das gute Beispiel „Top Dogs“ von Urs Widmer 1996 in diesem Beitrag, sollte man solche Stücke nicht auf die Bühne bringen. In der Folge hat Andreas Veiel dann folgerichtig aus dem Text ein Hörspiel produziert – ebenso ermüdend zwar, aber immerhin muss man sich nicht Schauspieler ansehen, die vorgeben, Banker zu sein.

Der Banker – Master of the Universe 2013 (Doku)

Man sagt, dass Türen nicht offen stehen sollen, damit andere nicht verleitet werden einzubrechen. So argumentiert auch einer, der selbst mitgemischt hat.

Rainer Voss, Investmentbanker im Ruhestand, schildert, was im Inneren der Banken zur Zeit des Aufschwungs vor sich ging und wie es aus seiner Sicht zur Finanzkrise kommen konnte. Er berichtet von dem in sich geschlossenen Bankensystem und von den Agierenden, die sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernen. Viele Stories lassen eine/n dabei einfach nur ungläubig, teils fassungslos zurück.

Der Schauplatz des Films ist passenderweise ein verlassenes Bankgebäude im Frankfurter Bankenviertel.

Die Unfehlbaren 2010 (Buch)

Die Unfehlbaren TitelbildDieses Buch liest sich wie ein Thriller. Es beschreibt nicht nur die Fakten im Vorfeld und während der Pleite der New Yorker Bank Lehman Brothers, sondern erzählt detailliert und in packender Form, wie sich nach und nach die Katastrophe anbahnt. Der Originaltitel „Too Big to Fail“ beschreibt in vier Wörtern, wie sich Banken seitdem immer noch sicher sein können, riskante und windige Geschäfte machen zu dürfen, ohne dafür zu haften (und stattdessen Boni auszuzahlen).

Andrew Ross Sorkin, Die Unfehlbaren. Wie Banker und Politiker nach der Lehman-Pleite darum kämpften, das Finanzsystem zu retten – und sich selbst, DVA Deutsche Verlags-Anstalt München 2010.

Enron 2005/ 2009 (Doku/ Theaterstück)

Enron DVD Titel

Im Jahr 2001 verursachte der amerikanische Energiekonzern Enron einen der größten Unternehmensskandale, die die US-Wirtschaft bislang erlebt hatte.

Mitglieder der Management-Ebene, darunter Kenneth Ken Lay, CEO4hief Executive Officer, Geschäftsführer (Enron-Gründer), Jeffrey Skilling, CEO, und Andrew Fastow, CFO5Chief Financial Officer, kaufmännische Leitung, (die später auch in dem auf diesen Fakten beruhenden Theaterstück als Rollen auftauchen) fälschten die Bilanzen im großen Stil.

Bilanzfälschung leicht gemacht

Sie verbuchten u.a. Termingeschäfte vorzeitig als Gewinn und schlossen Geschäfte mit firmeneigenen Off-Shore-Unternehmen (also mit sich selbst) ab, um die Schulden zu verschleiern.

Dass dies möglich war ist auch einer Deregulierung des US-Strommarktes unter George W. Bush (und später unter seinem „Irak-bedroht-uns-mit-Massenvernichtungswaffen“-Sohn) zu verdanken, d.h. dieser Finanzbetrug spielte sich nicht nur in der Wirtschafts- und Energiebranche ab, sondern offenbarte auch zahlreiche Vernetzungen und Verbrüderungen mit der Politik.

Gab Enron 1999 noch einen Jahresumsatz von rd. 40 Milliarden US-Dollar an, wurden zwei Jahre später 30 Milliarden US-Doller Schulden offenbart: Enron war pleite, 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren ihren Job. Jedoch nicht ohne dass rd. 500 Enron-Manager zuvor noch saftige Boni erhalten hatten.

Die Hybris und der tiefe Fall – Steilvorlage für das Theater!

Die britische Autorin Lucy Prebble hat daraus 2009 ein Theaterstück geschrieben. Die Verlagsbeschreibung darüber bringt es eigentlich bestens auf den Punkt:

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Inszenierung von Niklas Ritter am Hans Otto Theater Potsdam 2010, Foto: HL Böhme

Unheimliche Dinosaurier, die Raptoren, treiben im Keller der Konzernzentrale von Enron ihr Unwesen und vertilgen Schulden in Form von Dollarscheinen, mit denen ein halbwahnsinniges Finanzgenie sie füttert.

Und oben in der Unternehmensleitung sieht es nicht besser aus; Blinde, anzugtragende Mäuse und Bauchredner geben sich die Klinke in die Hand, während der Aktienkurs immer weiter steigt und eigentlich schon lange keiner mehr versteht, warum.

Einer der größten Skandale der Unternehmensgeschichte wird in ENRON zu einem expressionistischen Theaterspektakel. Mit dem Blick fürs Absurde werden die Mechanismen und menschlichen Verhaltensweisen offengelegt, die zu der fatalen Überbewertung von finanztechnischen Luftgebilden geführt haben.

Am Ende lässt Prebble den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Jeffrey Skilling verkünden: „Die Vorschriften dieses Staates waren ein einziger Murks. … Das (auszunutzen) ist unser Job. … Und ich weiß, der einzige Unterschied zwischen mir und den Leuten, die mich verurteilen, ist, dass sie nicht smart genug waren, das zu tun, was wir getan haben.“

Die Hochstapler 2007 (Doku)

Vier Hochstapler kommen hier zu Wort, und was die (z.T. hanebüchenen) Ideen und die Dreistigkeit betrifft, ist es zeitweise wirklich regelrecht komisch! Gruselig, wie leicht man andere betrügen kann, (und warum sie sich gern betrügen lassen) und wie man das Vertrauen von Leuten gewinnt.

Der Regisseur lässt die Protagonisten erzählen, sie selbst sprechen über ihre Motive und ihre Vergangenheit. Dabei kommen durchaus auch Grundmuster zum Vorschein: Selbstmitleid, Flunkereien, eine Kindheit, in der sie zwangsläufig in einer Fantasie-Welt agieren mussten.

Als Nicht-Geschädigte sage ich, dass letztlich alle Beteiligten Opfer sind. Ein schöner erhellender Film!

Unter Eis 2005 (Theaterstück)

Der Autor und Dramatiker Falk Richter war von 2006 bis 2010 Hausregisseur an der Berliner Schaubühne und hat (nicht nur in dieser Zeit) zahlreiche Stücke geschrieben und selbst inszeniert, welche sich jeweils mit gesellschaftspolitischen und ökonomischen Fragestellungen auseinander setzen.

In „Unter Eis“ geraten zwei nach höchster wirtschaftlicher Effizienz strebende Berater mit ihrem am „System“ zweifelnden älteren Beraterkollegen Paul Niemand in Widerspruch. Das Stück stellt Unternehmens-Consulting, erfolgreiche wie erschöpfte Wirtschaftsberater und eine erkaltete Gesellschaft mithilfe der anonymen, seelenlosen Sprache der Beraterbranche ins Zentrum.

Mensch und Gesellschaft erstarren zu Eis.

In seiner eigenen Inszenierung (Uraufführung im April 2004) sitzen die Berater an einem langen Konferenztisch frontal zum Publikum. Das hat in dieser Form und dem oft monotonen Beratersprech eine sehr ermüdende Wirkung.

Umso angenehmer überrascht war ich, dass der Autor das Stück für die Ruhrtriennale 2007 zu einem Libretto umgearbeitet hat, das von Jörn Arnecke vertont wurde.

So bekommt dieser Text die schrille, absurde Note, die es für dieses Stück meiner Meinung nach, unbedingt braucht, will es nicht reine Dokumentation sein!

Großartig!

Wir schlafen nicht 2004 (Roman und Theaterstück)

Basierend auf rund 30 Interviews mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Arbeitsfeld der Unternehmensberatung entstand 2004 der fiktive Roman „Wir schlafen nicht“ der österreichischen Autorin Kathrin Röggla.

Die New Economy

Die Recherche fällt in die Zeit der „New Economy“ (etwa von 1997 – 2000), die  kennzeichnet war durch einen enormen Hype um sog. „Dotcom-Startups“.

Charakteristisch für die New Economy waren zahllose Unternehmensgründungen in neuen Zukunftsbranchen wie Informationstechnik, Multimedia, Biotechnik und Telekommunikation. Sie galten als die Bereiche des Wachstums (im Gegensatz zur „alten“ Massenproduktion von Gütern) und erzielten Traumrenditen an den Börsen, an denen auch unzählige Kleinanleger auf der ganzen Welt teilhaben wollten.

Das hat nicht geklappt, wie man heute weiß, denn eine Vielzahl dieser Geschäftsmodelle der New Economy erwies sich als konzeptioneller Fehlschlag, was am Ende zum Platzen der „Dotcom-Blase“ und zu einem immensen Wertverlust der Aktien führte.

Menschen in der New Economy

Röggla lässt nun sieben Personen, u.a. Key Account Managerinnen, Unternehmensberater, Online-Redakteure und eine Praktikantin zu Wort kommen, die Schlaf, Familie und soziale Beziehungen an zweite Stelle setzen, wollen sie nicht als „Low Performer“ gelten. Es sind Menschen, die in Alkoholismus, Ängste, Wahnvorstellungen, psychische Erkrankungen und Beziehungsunfähigkeit fallen, weil sie an dem, was von ihnen direkt oder indirekt gefordert wird, langsam zerbrechen. Zwar wissen sie das, aber sie ignorieren es, um Effizienz und Funktionalität zu garantieren.

Die Figuren berichten in 33 Kapiteln (von „0. aufmerksamkeit“ über „11. aussprechen dürfen“ bis „32. wiederbelebung“) in konsequenter Kleinschreibung – meist in Monologen und in indirekter Rede, oft im Konjunktiv – von sich. Dies bewirkt den Eindruck von Getriebenheit, denn – die Figuren schlafen ja nicht.

Ein schöner dramatischer Dreh lässt sich in den letzten Kapiteln ausmachen: So tief strudeln die Protagonisten in ihrem Kosmos aus Oberflächlichkeit und Entfremdung ohne Wahrnehmung zu sich selbst und ihrer Außenwelt , dass sie nicht nur vergessen zu leben, sondern auch vergessen zu sterben. So sind es letztlich Zombies, die hier in ihrer eigenen Blase vegetieren.

Im Rahmen einer Veranstaltung der Universität St. Gallen, der Haniel Stiftung und des Palace St. Gallen am 01.11.2010 liest Kathrin Röggla aus ihrem 2004 im S. Fischer Verlag erschienen Roman „Wir schlafen nicht!“. (Dauer: 5:56)

Top Dogs 1996 (Theaterstück)

Dieses Stück des Schweizers Urs Widmer ist aus Beobachtungen und Gesprächen in Outplacement-Firmen entstanden: Manager müssen sich dort nach ihrer sog. „Freistellung“ neu orientieren. Als „Top Dogs“ (im Gegensatz zu den „Underdogs“) stellt sie das vor enorme psychische und andere Probleme, zumal sie sich in absurden Rollenspielen, Gangübungen und Traumreisen selbst entblößen müssen. Das hat eine große Komik.

Immer wieder Massenarbeitslosigkeit

Nach 2008 wurden auch sehr viele Angestellte (in den USA fristlos) entlassen (man

A man walks out of the Lehman Brothers building carrying a box of his belongings in New York September 15, 2008. REUTERS/Joshua Lott (UNITED STATES)
Entlassener Lehmann-Banker 2008 Foto: Joshua Lott / REUTERS

denke an die Banker mit den Kisten im Arm), insofern ist dieses Stück durchaus einen Blick wert.

In Europa war mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges der Weg in östliche Produktionsländer frei, in denen sehr viel kostengünstiger gewirtschaftet werden konnte. Firmen wanderten ab, Personal aus allen Hierarchieebenen wurde nicht mehr gebraucht. Zu dieser Zeit hatte man also v.a. mit struktureller Arbeitslosigkeit und ihren gesellschaftlichen Folgen zu kämpfen. Dies war übrigens auch der Anlass für meine Diplom-Arbeit zur Systematischen Arbeitszeitverkürzung  zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen“ an der FU Berlin.

Der Manager als Mensch

Letztlich entpuppen sich die Führungskräfte in dem Stück natürlich doch als Menschen, die die Entlassung nicht wie ein „Top Dog“ wegstecken, sondern im Gegenteil in unterschiedlicher Weise darunter leiden.

Nun ist dieser Dreh, dass auch „Manager Menschen sind“, doch etwas altbacken, und da merkt man schon, dass das Stück bald 30 Jahre alt ist. Aber immerhin wurde das Thema damals schon als beschreibenswert wertgeschätzt.

Hanglage Meerblick 1987 (Theaterstück)/ 1992 (Film)

Als Motto stellt der amerikanische Dramatiker David Mamet seinem Stück eine »Maxime der Verkaufspraxis« voran: »Immer abschließen! Always be closing!«. Es ist die Maxime der Immobilienmakler George Aaronow, Shelly Levene, Dave Moss und Richard Roma, ebenso Lebensinhalt und Daseinsberechtigung dieser Männer im mittleren Alter. Doch die Geschäftsleitung hat radikale Maßnahmen zur Umstrukturierung beschlossen: Derjenige von ihnen, der die meisten Abschlüsse verbucht, erhält einen Cadillac als Dienstwagen. Der zweite behält seinen Job. Die anderen beiden werden gefeuert. Damit ist das Rennen um die gewinnträchtigsten Kundenadressen eröffnet.

Glengarry Glen Ross Szenenbild
Glengarry Glen Ross: Szenenbild

Mamets mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete schwarze Komödie, uraufgeführt 1983, zeigt den harten Konkurrenzkampf von Angestellten, die mit allen Mitteln um ihren Arbeitsplatz ringen. Sozialdarwinismus pur!

1992 wurde das Stück mit hochkarätigen Schauspielern verfilmt: Regisseur James Foley („House of Cards“) besetzt die Immobilienmakler der alten Schule mit Jack Lemmon6Er erhielt dafür den „Coppa Volpi“ der Filmfestspiele von Venedig für die beste schauspielerische Leistung.  Al  Pacino7Pacino wurde 1993 bei der Oscar- und Golden-Globe-Verleihung als bester Nebendarsteller nominiert. , Ed Harris und Alan Arkin, in weiteren Rollen finden sich Kevin Spacey und Alec Baldwin. Der Film „Glengarry Glen Ross“ ist als DVD erhältlich.

Top Girls 1983 (Theaterstück)

Zeitreise in die 80er Jahre

Die britische Dramatikerin Caryl Churchill schrieb „Top Girls“ im Zuge der Wahl von Margaret Thatcher zur ersten weiblichen Premierministerin Großbritanniens. Sie stellt die Frage, was es bedeutet, eine erfolgreiche Frau zu sein, und ob es  für Frauen in der Gesellschaft überhaupt möglich ist, eine erfolgreiche Karriere mit einem lebendigen Familienleben zu verbinden.

Churchill hat erklärt, dass das Stück von ihren Gesprächen mit amerikanischen Feministinnen inspiriert wurde, in denen ein Kontrast zutage trat: zwischen dem amerikanischen Feminismus, der individualistische Frauen feiert, die Macht und Reichtum erlangen, und dem britischen sozialistischen Feminismus, der kollektiven Gruppengewinn beinhaltet.

Ich spielte 1989 die Angie am Musischen Zentrum der Ruhr-Universität Bochum und bekam immerhin das Prädikat „überzeugend dargestellt“ von der örtlichen Presse.

Inhalt

TopGirls SzenenbildIn der Eröffnungssequenz lädt die Karrierefrau Marlene berühmte Frauen aus der Geschichte ein, um mit ihnen ihre Beförderung in der Arbeitsvermittlung „Top Girls“ zu feiern, darunter auch die Päpstin Johanna, die, als Mann verkleidet, zwischen 854 und 856 Papst gewesen sein soll8Donna W. Cross hat aus dieser Legende 1996 einen spannenden Roman – „Die Päpstin“ – geschaffen., die Entdeckerin Isabella Bird, die Tolle Grete aus dem Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä., Lady Nijo, die japanische Geliebte eines Kaisers, oder die Geduldige Griselda aus Geoffrey Chaucers Canterbury Tales.

Im Verlauf der feuchtfröhlichen Runde stellt sich heraus, dass jede der Frauen trotz unbestreitbarer Erfolge große Zugeständnisse machen musste und jede auf ähnliche Weise gelitten hat.

Der Aufbau des Stücks ist nichtlinear. Die nächste Szene spielt in der Gegenwart (Anfang der 1980er Jahre) in der überaus „männlichen“ Ausrichtung der Agentur.  Die Damen von „Top Girls“ müssen dort hart und unsensibel sein, um zu funktionieren und mit Männern zu konkurrieren.

Im selben Akt sieht das Publikum auch den wütenden, hilflosen Teenager Angie und seine lieblose Beziehung zur Erziehungsberechtigten Joyce.

Erst in der Schlussszene, die ein Jahr vor den Büroszenen spielt, erfährt das Publikum, dass Marlene und nicht Joyce Angies Mutter ist. Diese Klarstellung sowie der politische Streit zwischen den Schwestern verschieben den Schwerpunkt des Stücks und formulieren die Fragen neu.

Der „Thatcherismus“

Grundlage der britischen Wirtschaftspolitik in der Nachkriegszeit war der Aufbau eines alle Bürgerinnen und Bürger einbeziehenden staatlich finanzierten Systems der sozialen Sicherung und die Übernahme staatlicher Verantwortung für die Wirtschaft9im Sinne von John Maynard Keynes (1883 – 1946). Und dennoch galt Großbritannien in den 1970er Jahren als der „kranke Mann Europas“10Zum Begriff hier..

Mit ihrer rigiden Wirtschaftspolitik dagegen, nämlich der Konzentration auf einen gnadenlosen Kapitalismus und den freien Markt, eingeschränkten Staatsausgaben und Steuersenkungen (gepaart mit britischem Nationalismus), gelang es Margaret Thatcher, die britische Inflation zu senken, allerdings um den Preis eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit.

Deshalb war auch ihre gesamte Regierungszeit von sozialen Unruhen und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Trotzdem stärkten ihre Politik der Privatisierung, Deregulierung und der Zurückdrängung des Gewerkschaftseinflusses zweifellos die britische Wirtschaft in Europa.

Doch auch hier sehen wir: Krisen befördern offenbar die Kunstproduktion.

Quellen zu diesem Thema

John Gabriel Borkman 1896/ 2015 (Theaterstück)

Die originäre Handlung konsequent neu gedacht

So liebe ich das Theater!

Beispielhaft hier die Inszenierung von Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ am Akademietheater des Burgtheaters Wien aus dem Jahr 2015 durch Regisseur Simon Stone.

Inhalt: John Gabriel Borkman hat sich auf dem Dachboden seines Hauses verbarrikadiert. Er muss sich darüber klarwerden, was ihm von seinem Finanzimperium geblieben ist. Abgestürzt nach einem sagenhaften Aufstieg und wegen skrupellosen Betrugs mit acht Jahren Haft bestraft, ist der Banker ruiniert, sein Ansehen liegt in Schutt und Asche, seine Familie ist vollkommen zerstritten und gesellschaftlich isoliert. Einzig sein Sohn könnte den Ruf des Vaters wiederherstellen.

„Der Regisseur Simon Stone hat Henrik Ibsens Stück im Lichte der Finanzkrise Europas (2008) neu interpretiert. Ibsens präziser Entwurf – die Sinnsuche John Gabriel Borkmans, der im Geld die alles gestaltende Kraft vermutete – kulminiert in dieser Interpretation in einem verzweifelten Machtkampf der Familie um ihre einzige verbleibende Hoffnung: Borkmans Sohn.“ Simon Stone untersucht die Bruchlinien bürgerlicher Verwerfungen im Kontext des größten Finanzdebakels des Kontinents. (Quelle: Burgtheater Wien)

„Die Methode des 31-jährigen Australiers Simon Stone ist einfach, doch frappierend: Von den Stücken, denen er sich widmet, bleibt nur wenig Original-Text erhalten. Er erzählt die Geschichte in eigenen, heutigen Worten neu. Auch bei Ibsens „John Gabriel Borkman“ befinden wir uns in der Gegenwart, in der man sich selbst googelt und einander auf Facebook folgt.

Der Finanzskandal, der Borkman ins Gefängnis brachte, hat hartnäckige Spuren im Internet hinterlassen. Ähnlich wie die Figuren, die sich im Dauer-Schneefall von Bühnenbildnerin Katrin Brack erst allmählich aus den Schneeanwehungen wühlen, sind Schmach und Schande nur oberflächlich verdeckt.

In der winterlichen Landschaft dieser immer wieder erstaunlich witzigen Aufführung geht eine Wolfsgesellschaft ans gegenseitige Zerfleischen. (…)

Hochdrucktheater, in dem keine Gefangenen gemacht werden und noch die Sterbenden mit dem „Victory“-Zeichen“ abtreten.“ (Quelle: Berliner Theatertreffen 2016)

Don Giovanni 1787/ 2006 (Oper)

An der Opéra National de Paris hat der österreichische Filmemacher Michael Haneke im Jahr 2006 erstmals eine Oper – Mozarts „Don Giovanni“ – inszeniert. Ich konnte diese Produktion sehen, und ich war tief beeindruckt von dieser Art der Herangehensweise. Denn so hatte ich den Don Giovanni noch nie gesehen.

Don Juan als Business Manager

Don Giovanni Opéra National de Paris 2015
Don Giovanni Opéra National de Paris 2015, Foto: Vincent Pontet

Haneke versetzt die Handlung in die moderne Businesswelt. Alle Protagonisten sind Mitarbeiter einer großen Firma, angefangen vom Komtur (Firmenpatriarch) über Don Giovanni (Jungmanager) bis zu Zerlina und Masetto (Putzkolonne).

Vor allem nach Dienstschluss schlägt Don Giovannis Stunde. Er ist jung, smart, trägt Anzug und Krawatte und posiert mit Händen in den Hosentaschen als Zeichen der Unbesiegbarkeit.

Wer ihm über den Weg läuft, kann sich der ihn umgebenden Machtausstrahlung nicht entziehen – Donna Anna nicht, die Tochter des Vorstandvorsitzenden, Donna Elvira nicht, die gekommen ist, um ihren Ex am Arbeitsplatz zu kompromittieren, und Zerlina, das junge Ding aus der Putzkolonne, sowieso nicht, obwohl dieser Don Giovanni glatt, kalt und unnahbar ist. Geradezu beiläufig begeht er den Mord am Komtur.

Die Inszenierung erzählt von der „Gesetzlosigkeit und der menschenverachtenden Raubtiermentalität im modernen Wirtschaftsfeudalismus“ (Spahn 2006).

Genial!

Fazit

  • Stücke sind Produkte ihrer Zeit und greifen Themen der Gegenwart auf.
  • Ökonomie, Produktionsbedingungen, Künstlerexistenzen sind ein zentrales Thema in der Kunst.
  • Theater greift zuweilen Themen der Zeit vor.
  • Ein Thema muss verdichtet und dramatisiert werden, um auf der Bühne zu funktionieren.
  • Krisen funktionieren gut, weil sie extreme Situationen und Emotionen hervorbringen.

Literatur

  • Adolph, Alexander, Die Hochstapler, Arthaus DVD 2015
  • Bauder, Marc (Produzent), Der Banker – Master of the Universe (DVD), mit Rainer Voss, 2013, https://www.bpb.de/mediathek/video/225092/master-of-the-universe
  • Churchill, Caryl, Top Girls, Bremen 1983
  • Galceran, Jordi, Die Grönholm-Methode, Berlin 2005
  • Gibney, Alex (Regie), Enron – the smartest Guys in the Room, 2005, DVD Arthaus
  • Mamet, David, Hanglage Meerblick, Ffm. 1987
  • Mamet, David, Glengarry Glen Ross (Film), Regie: James Foley 1992
  • Prebble, Lucy, Enron, in: Theater heute 01/11 Stückabdruck, UA London 2009
  • Richter, Falk, Unter Eis, in: ders., Unter Eis, Ffm. 2005, S. 434 – 476
  • Röggla, Kathrin, Wir schlafen nicht, Frankfurt a.M. 2004
  • Sorkin, Andrew Ross, Die Unfehlbaren. Wie Banker und Politiker nach der Lehman-Pleite darum kämpften, das Finanzsystem zu retten – und sich selbst, München 2010
  • Spahn, Claus,
  • Veiel, Andreas, Das Himbeerreich, in: Theater Theater, Aktuelle Stücke 24 (Band 19707), Ffm. 2013
  • Widmer, Urs, Top Dogs, Ffm. 122006

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