Biomechanik nach Meyerhold: Physiologisches Präsenztraining

Biomechanik nach Meyerhold: Physiologisches Präsenztraining

Die Biomechanik ist eine fantastische, wenn auch keine einfache Methode, die eigene Präsenz im Alltag und auf der Bühne zu schulen.

Hier stelle ich einen kurzen geschichtlichen Abriss sowie ausgewählte Elemente dieses körperbetonten Trainings vor. Eine umfangreiche Quelle finde ich dabei in dem Buch von Jörg Bochow von 20101Bochow, Jörg, Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Berlin 2010, 2. Auflage (auch Foto oben: 166), in dem er Geschichte und Originalmaterialien der Gründer erstmals in einem Band zusammen fasst.

Entwicklung

Ursprünglich wurde die Biomechanik als Gegenentwurf zu Stanislawskis naturalistischem „System“ von dessen Schüler Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874 – 1940) Anfang des vergangenen Jahrhunderts entwickelt.

Meyerholds Ziel war die Schaffung einer analytischen Bewegungslehre für Schauspieler. Damit lehrte er in Abgrenzung zu Stanislawski die Erarbeitung einer Rolle vom Äußeren (technische Vollkommenheit in der Körpersprache, Atmung und Diktion) zum Inneren (reflexhafte2Reflexologie: Meyerhold beruft sich auf die – gerade auch in dieser Zeit stark diskutierten Theorien – der Reflexologie und der Reflexpsychologie (vgl. Pawlow). Die biomechanischen Übungen sollten dazu dienen, den Körper des Schauspielers geschmeidig zu machen, damit er schnell und genau die Körperstellungen einnehmen konnte, die „reflexhaft“ die von ihm auszudrückenden Gemütszustände hervorriefen. Emotion).

Seine Grundlage hatte dieses Theaterkonzept im Taylorismus, in dem die Arbeit in kleinste Segmente zerlegt wird, um einen möglichst ökonomischen Produktionsablauf zu gewährleisten.

Genau dieses Prinzip wendet Meyerhold auf die Bewegungsmechanismen eines Schauspielers an. Denn die Kunst eines Schauspielers bestehe in „der Organisation seines Materials, das heißt in dem Vermögen, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig einzusetzen.“ (Meyerhold nach Bochow 2010:15).

Meyerhold erarbeitet dazu sog. Etüden, die er im Schauspielunterricht einsetzte.

Begriffe

Kerngedanke der biomechanischen Übungen ist die Segmentierung der Bewegung in einzelne Teile, welche dem Schauspieler die Gesetzmäßigkeiten von Bewegung generell bewusst machen. Es gibt einen geschlossenen Zyklus dieser Segmente, die  folgendermaßen lauten:

  1. Otkas (vorbereitende Gegenbewegung)
  2. Posyl (Ausführung)
  3. Stoika (Stand)

Aus diesen Bewegungssegmenten soll ein organischer, nicht unterbrochener Bewegungsfluss entstehen. „Ideal wird es sein, wenn die aufeinander folgenden Phasen der sich entfaltenden Elemente des Spiel einander als Otkas-Vorspiel dienen.“ (Eisenstein3Der spätere Filmregisseur Sergej Eisenstein war Schüler Meyerholds und hat umfangreiche Mitschriften der Vorträge und Kurse erstellt. nach Bochow 2010:100).

Meyerhold hat noch weitere Begriffe eingeführt (Tormos, Rakurs etc.), die hier nicht näher beschrieben werden.

Otkas

Otkas (sprich: Atkás, wörtlich: Weigerung, Ablehnung) ist die vorbereitende Gegenbewegung einer Handlung. Da diese immer in die entgegengesetzte Richtung ausgeführt wird, macht die Bezeichnung auch Sinn.

„Die Bewegung, die man, um eine Bewegung in eine bestimmte Richtung ausführen zu können, vorbereitend in die entgegengesetzte Richtung macht (teilweise oder vollständig), wird in der Praxis der Bühnenbewegung „Otkas-Bewegung“ genannt.“ (Eisenstein nach nach Bochow 2010:98).

Diese Bewegung kann auch nur rein gedanklich geschehen: „Ein Mensch denkt: „Ich gehe. Nein, ich gehe nicht.“ Dann geht er.“ (ebd.)

Posyl

Posyl (sprich: Passíl, wörtlich: absenden, ausführen), ist die eigentliche Bewegung in der Durchführung (Handschlag, Ohrfeige, Sprung auf die Brust, Schuss mit dem Bogen uvm. – Auszug aus den „Etüden“).

Stoika

Der „Stand“ ist der Abschluss der Bewegung. Er muss klar und fest gesetzt werden. Im besten Fall ist die Stoika gleichzeitig Otkas für die nächste Bewegung. Dies erfordert einige Übung, um einen fließenden Übergang herzustellen.

Beispiel

Meyerhold selbst gibt ein Beispiel für diese Bewegungsfolge – der Angriff eines Tigers:

  1. Nach dem Heranschleichen verharrt der Tiger, duckt sich vor dem Sprung (Otkas).
  2. Er vollzieht geschmeidig und präzise den Sprung auf die Beute. Die Beute fällt. (Posyl)
  3. Das Raubtier hat sich die Beute unterworfen. Es verharrt. (Stoika)

Praxis

Dieses Video zeigt Gennadi Bogdanow, der in einen Monolog aus „Warten auf Godot“ die Etüde „Der Steinwurf“ beispielhaft implementiert4Die gesamte Übung findet man hier. .

Gennadi Bogdanow war Schüler eines der Instrukteure am Meyerhold-Theater, Nikolai Kustow, und ist Kooperationspartner des Mime Centrums Berlin, das sich der Analyse und Dokumentation des Systems der Biomechanik verschrieben hat. Dort gibt es umfassende Informationen und weiterführende Literatur zu dieser Methode. Empfehlung!

Dass die Biomechanik ein ziemlich sportliiches Training erfordert, kann man dem Trainingsprotokoll eines 12tägigen Kurses mit Bogdanow entnehmen.

Eigene Produktionen

Speziell in den 90er Jahren fand eine intensive Rückbesinnung auf die Biomechanik nach Meyerhold statt. Nachdem seine Lehre im stalinistischen Russland ab Ende der 20er Jahre zunehmend verdrängt, er selbst sogar 1940 hingerichtet wurde, kamen nach dem Zerfall des russischen Reiches immer mehr Schriften und Etüden ans Tageslicht. Eine gute, knappe Zusammenfassung darüber bietet dazu der Bayerische Rundfunk.

Ich selbst habe in den 90er Jahren in mehreren Produktionen gespielt, die biomechanische Etüden als Grundlagen für die Inszenierung nahmen oder sogar ganz pur auf die Bühne brachten.

Auch in der Ausbildung am Europäischen Theaterinstitut Berlin, damals gerade gegründet, war schon von Beginn an biomechanisches Körpertraining Teil des Stundenplans. So konnte ich schon sehr früh davon profitieren.

Scharen von SchauspielschülerInnen wurden 1997 in die Inszenierung von Bertolt Brechts „Mann ist Mann“ in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin unter der Regie von Thomas Ostermeier gebracht, um eine „echte“ biomechanische Theaterarbeit zu sehen.

AnFangSpiel Karte

In der Produktion an-fan-spiel mit Texten von Samuel Beckett und Gertrude Stein, in der ich als Schauspielerin mitwirkte, haben wir ein halbes Jahr intensives biomechanisches Training absolviert, das sich auch an den Übungen wie im Trainingsprotokoll orientierte. Davon zehre ich bis heute, so unglaublich das klingen mag. Im Gegenteil musste ich mir für mein Kendo-Training (2012 – 17) die Gewohnheit, einen „Otkas“ vor jede Bewegung zu setzen, regelrecht abgewöhnen, um blitzartig reagieren zu können. Denn dies steht im absoluten Widerspruch zu der vorbereitenden Bewegung des Otkas.

Presse_AnFangSpiel

1998 spielte das Theater Mäanda die Eigenproduktion „Die herausfallenden Frauen“ mit Texten des russischen Schriftstellers Daniil Charms. Hier wurden die Etüden als Teil der Zeitgeschichte ganz direkt auf die Bühne gebracht (hier: die Ohrfeige).

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Theater Mäanda, Die herausfallenden Frauen 1998, Foto: Jürgen Scheer

Präsenz durch Otkas

Wie man sehen kann, sind die Bewegungssegmente der Meyerholdschen Biomechanik ausgesprochen groß und expressiv. Das muss auch so sein, um die ganze Bewegung sehr deutlich in ihren Einzelschritten wahrzunehmen.

Ziel ist es aber – in den Inszenierungen vielleicht weniger, im Präsenztraining mehr – den Otkas immer mehr zu verkleinern, bis er schließlich auf einen kleinen Impuls reduziert ist.

Wenn aus diesen Bewegungssegmenten ein organischer, nicht unterbrochener Bewegungsfluss entsteht, ist das Ergebnis eine kraftvolle, präzise und energiereiche Handlung.

Den Unterschied wird man von außen sehen – ohne dass es Zuschauende möglicherweise benennen können – und als Ausführende/r immer selber spüren, selbst wenn diese anfängliche Gegenbewegung nur winzig, selbst sogar nur gedacht ist.

Die Bewegung bekommt einen klaren Anfang.

Die Stoika am Schluss führt dazu, dass die Bewegung mit einer klaren Haltung abschließt.

Demnächst will ich versuchen, dieses Prinzip anhand eines Videos zu verdeutlichen.

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