Daniil Charms: Plädoyer für den Quatsch

Daniil Charms: Plädoyer für den Quatsch

Mich interessiert nur der ‚Quatsch‘; nur das, was keinerlei praktischen Sinn hat.  Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung.

Daniil Charms

Dass Daniil Charms, russischer Schriftsteller und Gründungsmitglied der OBERIU, der avangardistischen „Vereinigung der realen Kunst“ in Leningrad, dieses Statement ernst meint, lässt sich in vielen seiner wunderbaren Texte, Gedichte, Theaterstücke und Romanfragmenten erleben.

Ich möchte einen Schriftsteller vorstellen, der in den 1990er Jahren wieder populär wurde, nachdem er fast fünfzig Jahre in Vergessenheit geraten war.

Kurzes Leben

Daniil Charms, geboren am 17.12.1905 in St. Petersburg, ist ein Klassiker des modernen schwarzen Humors in Russland, war Mitglied diverser Avantgardegruppen Leningrads1Von 1924 – 1991 hieß St. Petersburg Leningrad. und konnte zu Lebzeiten nur zwei Gedichte veröffentlichen.

Er verdiente mit Kindergeschichten seinen Lebensunterhalt, bis auch diese als „konterrevolutionär, antisowjetisch und schädlich“ eingestuft wurden.

Charms starb am 02.02.1942 in der Haft während der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Es wird behauptet, er sei in seiner Zelle vergessen worden und daher verhungert.

Was sagen andere über ihn?

Die mit ihm befreundete Kinderbuchautorin Nina Gernet schwärmte über ihn, „er war ein Gentleman, groß, schön, gut erzogen, stets korrekt, sauber, höchst ehrenhaft, besaß ein vollkommenes Gefühl für Humor und ein nicht minder vollkommenes Gefühl für das Wort und ein literarisches Gehör.“ (Charms 1994:355). Ich glaube, sie war verliebt in ihn.

Wladimir Kaminer schreibt in seiner ernst-ironischen Weise über Charms: „Der Weg in die offizielle Literatur blieb Charms verschlossen. Seine Gedichte und Märchen wollten nicht einmal mehr Kinderzeitschriften drucken. Sie hielten die Texte für eine böse Parodie auf die Kinderliteratur und das nicht ohne Grund.

In Charms „Wintermärchen“ heißt es zum Beispiel: „Einmal ging ein alter Mann in den Wald, ohne selber zu wissen, wozu. Nach einer Weile kam er aus dem Wald zurück und sagte zu seiner Alten: „Du, Alte, hör mal zu!“ Die Alte fiel sofort zu Boden, und seitdem sind alle Hasen im Winter weiß.“ (Kaminer 2019:299)

Entdeckung

Wir entdeckten Daniil Charms (wie viele andere, er erlebte ein regelrechtes Revival), in den 90er Jahren für uns und bauten aus dem durchforsteten Material ein eigenes Theaterstück: „Die herausfallenden Frauen“. Der Titel bezog sich auf die Geschichte „Die neugierigen alten Frauen“, die nacheinander aus den Fenstern schauen und allesamt hinunterfallen. (Charms 1988:208).

Die wiederkehrenden Motive des Herausfallens, Verschwindens, Brotkaufens, die absolut ernst proklamierten Themen von Ungastlichkeit und Kinderfeindlichkeit und die teils unsinnigen Dialoge zwischen Personen, die nicht weiter vorgestellt werden – wir haben uns teilweise gekugelt vor Lachen. Nicht zuletzt diese Tatsache mündete in dem Wunder „Malgil“: „Nach und nach büßt der Mensch seine Form ein und wird zur Kugel.“

Ich schätze, erst viel später haben wir auch die bittere Seite dieser Texte wirklich verstanden, die in Zeiten von Repression und Denunziantentum durchaus einen anarchischen Charakter hatten.

„Die herausfallenden Frauen“ – das Setting

Wir versetzten die Szenerie in ein Schreibbüro. Vier Schreibdamen, später das Fräulein, die Alte, der Dreckskerl und der Mathematiker, sitzen in einem Großraumbüro und tippen und leben die Texte von Daniil Charms.

Theater Mäanda Die herausfallenden Frauen nach Daniil Charms

FRAGE Hat unsere Arbeit schon begonnen? Und wenn, worin besteht sie?

ANTWORT Unsere Arbeit wird sofort beginnen, und sie besteht in der Registratur der Welt, denn wir sind nicht mehr die Welt.

FRAGE Wenn wir nicht mehr die Welt sind, was sind wir dann?

ANTWORT Doch, wir sind Welt. D.h., ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Wir sind noch Welt, aber wir sind allein für uns, und sie ist für sich. Das muss ich erklären: es gibt Zahlen: 1,2,3,4,5,6,7 usw. Alle diese Zahlen bilden eine Reihe des Zählens und Rechnens. In ihr findet jede Zahl ihren Platz. Nur die 1 ist eine besondere Zahl. Sie kann abseits stehen, als Indikator für die Abwesenheit von Zählung. Die 2 dagegen ist die erste Vielzahl, und nach der 2 alle anderen Zahlen. Bestimmte Primitive können nur so zählen: eins und viel. So sind auch wir in der Welt so etwas wie eine Eins in der Reihe der Zahlen.

FRAGE Schön, und wie wollen wir die Welt registrieren?

ANTWORT So, wie die Eins alle übrigen Zahlen registriert, indem sie sich in sie hineinlegt und beobachtet, was dabei herauskommt. (…)  (Daniil Charms, Der Säbel).

Die Musik

Viele der Gedichte und Fragmente schienen schier danach zu rufen, vertont zu werden. Auch verschiedene Schlachtrufe der Bürofräulein sollten musikalische Verstärkung bekommen. So war es ein Glück, Heidi Sinram als musikalische Leiterin gewinnen zu können, die mit ihrer tollen Sopranstimme und ihren beiden Mitstreitern eigens für dieses Stück komponierte Lieder entwickelte und dem Stück damit auch ein atmosphärisches Fundament geben konnte.

Hier gibt es es einen etwas schummrigen Ausschnitt aus der Produktion.

Beispiel: Die Rolle des Dreckskerls

Aus den vielen Texten, die wir zusammen mit unserer Regisseurin Suse Kipp und der Autorin Katrin Heinau durcharbeiteten, schälten sich nach und nach immer wiederkehrende Charaktere heraus. Daraus konnten wir weitgehend feste Rollen für uns definieren. Ein davon war „der Dreckskerl“, inspiriert von folgenden Texten:

Ein Dreckskerl

Senka gab Fedka eine Maulschelle und versteckte sich unter der Kommode. Fedka zerrte Senka mit dem Schürhaken unter der Kommode hervor und riss ihm das rechte Ohr ab. Senka entwand sich Fedka und lief mit dem abgeris­senen Ohr zu den Nachbarn. Aber Fedka holte Senka ein und schlug ihm die Zuckerdose auf den Kopf. Senka fiel um und starb wohl.

Da packte Fedka seine Sachen in einen Koffer und reiste nach Wladiwostok.

In Wladiwostok wurde Fedka Schneider; im Grunde genommen wurde er kein richtiger Schneider, denn er nähte nur Damenwäsche, vorwiegend Unterhosen und Büstenhalter. Die Damen genierten sich nicht vor Fedka, hoben vor seinen Augen die Röcke, und Fedka nahm bei ihnen Maß.

Fedka hatte fürwahr viel gesehen.

Fedka war ein Dreckskerl. (…) (Charms 1994:184f.)

Theater Mäanda Die herausfallenden Frauen nach Daniil Charms

Hetzjagd

Ich wirbelte Staub auf. Kinder liefen hinter mir her und rissen sich die Kleider kaputt. Von den Dächern fielen alte Männer und alte Frauen. Ich pfiff, ich stampfte, ich klapperte mit den Zähnen und rumste mit dem Eisenstab. Die Kinder mit den zerrissenen Klei­dern setzten mir nach, konnten aber nicht mithalten und brachen sich in ihrer wilden Hast die dünnen Beine. Die alten Männer und alten Frauen sprangen um mich herum.

Ich stürmte vorwärts! Schmutzige rachitische Kinder, Scharen von Giftpilzen gleich, gerieten mir zwischen die Füße. Das Laufen fiel mir schwer. Ich stolperte alle na­selang, und einmal wäre ich sogar fast in den weichen Brei der am Boden strampelnden alten Männer und al­ten Frauen gefallen. Ich machte einen Sprung, riss ein paar Giftpilzen den Kopf ab und trat einer dürren Alten auf den Bauch, die laut knackte und hauchte: »Jetzt ist es aus.« (…) (Charms 1994:200)

Das Wunder – zur Kugel werden

In der Geschichte von Makarov und Petersen Nr. 3 findet Makarov ein Buch mit dem Titel „Malgil“. Sobald er ihn Petersen gegenüber ausspricht, verändert sich die Welt – die beiden befinden sich im Dunkeln, umgeben von lauter Kugeln, die aber nur für Petersen sichtbar sind. Makarov findet die Erklärung in dem Buch: „Nach und nach büßt der Mensch seine Form ein und wird zur Kugel. Der zur Kugel gewordene Mensch büßt alle seine Wünsche ein.“ (Charms 1994:38f.)

Theater Mäanda Die herausfallenden Frauen nach Daniil Charms

Das Ende

Die Pausenklingel ertönt – das Wunder ist vorbei.

IVAN IVANOVIC Wenn Sie gestatten, Elizaveta Kakerlakovna, so gehe ich jetzt lieber nach Hause. Zu Hause erwartet mich meine Frau. Sie hat viele Kin­der, Elizaveta Kakerlakovna. Verzeihen Sie, dass ich Sie belästigt habe. Vergessen Sie mich nicht. Ich bin eben ein Mensch, der von allen gejagt wird. Fragt sich nur, weshalb. Habe ich gestohlen? Nein. Eli­zaveta Eduardovna, ich bin ein ehrbarer Mensch. Ich habe zu Hause eine Frau. Meine Frau hat viele Kinder. Gute Kinder. Jedes von ihnen hält eine Streichholzschachtel zwischen den Zähnen. Sie werden mir verzeihen. Ich, Elizaveta Michajlovna, gehe jetzt nach Hause. (Elizaveta Bam 1997: 63)

Diesen Text haben wir Elizaveta selbst – dem Fräulein – in den Mund gelegt.

Theater Mäanda Die herausfallenden Frauen nach Daniil Charms

Und damit war das Stück zu Ende.

Das Buch und die Mitwirkenden

Die AlteKatrin Gödeke
Das FräuleinKathrin Heinau
Der MathematikerDaniela Vöge
Der DreckskerlMaria Wechselberger
Gesang, Keyboard, ErhuHeidi Sinram
Gesang, Keyboard, PercussionJens Haupt
Gesang, Keyboard, GitarreKay Stoltzke
RegieSuse Kipp
BühneSusanne Abel
Mirko Frohmann
LichtMartin Pohlmann
MaskeBeatrice Korff
FotosJürgen Scheer
Plakatentwurf/ KakerlakeArno Hüsges
ÖffentlichkeitsarbeitMTT PR/ Kulturmanagement Berlin

Impressum_Charms Dramaka

Literatur

  • Charms, Daniil, Fälle, Ffm. 1988
  • Charms, Daniil, Theater, Ffm. 1997
  • Charms, Daniil, Zwischenfälle, hg. v. Lola Debüser, Berlin 41994
  • Elizaveta Bam, in: Charms 1997, S. 55 – 88
  • Kaminer, Wladimir, Tolstois Bart und Tschechows Schuhe. Streifzüge durch die russische Literatur, München 2019

Titelbild: Zeichnung von Daniil Charms, Zwischenfälle, S. 328

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