Das Phänomen „Zeit“ auf der Bühne

Das Phänomen „Zeit“ auf der Bühne

Mit dem Faktor „Zeit“ lässt sich im Theater wunderbar experimentieren. „Zeit“ ist eine eigene Dimension, mit der die Aussage einer Szene auf ganz besondere Weise wiedergegeben, ergänzt und beeinflusst werden kann.

Welche Arten von Zeit es gibt und wie sie bearbeitet werden können zeigt diese Übersicht. Die Beispiele dazu sind eine ganz persönliche Auswahl von Stücken, die ich selbst gesehen habe.

Welche Zeiten gibt es?

Gespielte Zeit/ erzählte Zeit:

Das ist die Zeit, in der das Stück spielt oder vielmehr in deren Rahmen sich das Stück abspielt. Das kann eine ganze Epoche sein1Beispiel: Robert LePage „Die sieben Ströme des Flusses Ota“, eine Zeitreise über 50 Jahre.  oder ein sehr kurzer Zeitraum2Beispiel: Raymond Queneau, Stilübungen, 113 Variationen einer Szene, die sich innerhalb von ca. 2 Stunden abspielt.. Das Publikum erlebt auf der Bühne also nicht die Zeit, die es tatsächlich im Zuschauerraum verbringt.

Spielzeit/ Erzählzeit

Das ist die Aufführungsdauer. Während die Dauer nach der Generalprobe für die meisten Stücke annähernd feststeht, gibt es aber auch mehr ereignishafte Theaterabende, bei denen sich Schauspieler und Zuschauer vermischen – Bühne und Zuschauerraum sind fließend. Behinderungen, Pannen, Pausen oder Störungen unterbrechen den Fluss immer wieder3Vgl. das Theater Christof Schlingensiefs.. Das ist als Theaterform gewollt – herkömmliche Theaterrituale werden aufgebrochen – und kann damit auch bewusst von Abend zu Abend unterschiedlich verlaufen.

Oder die Stücke werden durch diverse assoziative Einschübe sehr lang (als gemeinsamer Abend, an dem alles mögliche passiert), doch kann man deren Dauer selbst bestimmen, indem man bleibt, pausiert oder geht4Z.B. „Staub – Ein Abend von Sebastian Hartmann“..

Dann fallen beide Zeitformen auch zusammen, indem z.B. der Text das Spiel ist5Z.B. die „Theaterstücke“ von Ferdinand von Schirach, oft Gerichtsverhandlungen in Echtzeit..

Selbstverständlich hat jede einzelne Inszenierung auch ihren eigenen Rhythmus. Hier soll es aber mehr um die Inszenierung der Zeiten selbst gehen.

Zeit bearbeiten

Zeit dehnen

Die Langsamkeit kann ein eigenes Ausdrucksmittel sein; man kennt es aus dem Western zur flirrenden Spannungserzeugung, oder aber wenn kurze spannungsreiche Momente filmisch verlangsamt werden  („Matrix“). Im Theater kennt man solche Mittel auch.

Hier geschehen sie oft durch permanente Wiederholungen von Handlungen, die der Szene einen eigenen Rhythmus geben. Die Handlung selbst jedoch kommt nicht zu einem Ende, Zeit vergeht nicht.

Oder aber die Handlung selbst geschieht extrem verlangsamt6Vgl. das Bildertheater von Robert Wilson..

Manchmal ist diese Langsamkeit auch die Aussage selbst7Vgl. die Inszenierungen von Christoph Marthaler, dem „Prinzen der Langsamkeit“ (D. Chaperon)..

Zeit auf der Bühne Verlangsamung Dramaka
Robert Wilson, The Lady from the Sea 1998

Zeit raffen

Die Zeit wird zusammen gezogen, wenn Szenen im Schnelldurchlauf gespielt werden – Clownstheater spielt oft mit diesem Element. Szenen können auch gesprungen werden (s.a. Zeit vergeht), oder sie springen sogar selbst in der Zeit als Blick in die Zukunft.

Ein weitere dramaturgische Möglichkeit ist die schnelle Ausführung eigentlich langsamer Bewegungen (z.B. Schlaf). Hier als Beispiel eine Katze – vier Stunden Schlaf in 90 Sekunden.

Diese Schnelligkeit kann auch ein Empfinden der Figuren ausdrücken, sie stecken in der Maschine fest, rotieren, laufen im Hamsterrad, zudem gibt es keine Zeit für große Emotionen.

Zeit vergeht

Zeit vergeht oft, wenn eine Figur abgeht und wieder auftritt: ein Kampf ist geschehen, eine Nachricht ist eingetroffen. Die Figur ist verändert oder wird verändert in dieser Zeit der „Abwesenheit“ – im Verhalten, im Aussehen, in veränderten Attributen. Beispiel: Macbeth ermordet Duncan, den König von Schottland, im Off.

Ich geh, und ’s ist getan; die Glocke mahnt. Hör sie nicht, Duncan, ’s ist ein Grabgeläut, Das dich zu Himmel oder Hölle entbeut. (Hamlet geht, der Mord geschieht.) Wie ists mit mir, dass jeder Ton mich schreckt? Was sind das hier für Hände? Ha, sie reißen mir meine Augen aus – Kann wohl des Meergotts Ozean Dies Blut von meiner Hand reinwaschen? Nein.

Macbeth, II. Akt, 1. Szene, Übers. D. Tieck

Schön ist auch immer, wenn sich die Figuren auf der Bühne langweilen – dies geschieht oft in Echtzeit, und das Publikum kann die Langeweile in Echtzeit gleich mitempfinden…

Rückblicke, die außerhalb der Szenerie stattgefunden haben, öffnen den Raum und die Zeiträume sehr weit. Beispiel: Antigone eröffnet ihrer Schwester, dass sie ihren Bruder verbotenerweise bestatten wird (Zeile 71 der Reclam-Ausgabe). Schon in der nächsten Szene berichtet ein Bote dem König Kreon diese Bestattung (Zeile 245).

Zeit als Moment

Eine besondere Form des Theaters findet man in Aufführungen, die Theater als Ereignis und Situation, als einmaligen Moment, als Performance darstellen.

Dies lässt sich beispielhaft bei Samuel Becketts „Atem“ miterleben. Das Stück besteht nur aus einem Atemzug (ohne Schauspieler) und zwei Schreien. Dennoch hat das Stück nach aristotelischer Auffassung alles, was es für das Theater braucht (Einheit der Zeit, abgeschlossene Haupthandlung mit Anfang, Mittelteil und Ende).

Dunkel. Dann 1) schwache Beleuchtung der Bühne, auf der verschiedenartiger, nicht erkennbarer Unrat herumliegt. Etwa fünf Sekunden lang. 2) Schwacher, kurzer Schrei und sofort danach gleichzeitig Einatmen und allmählich aufhellende Beleuchtung bis zu dem nach etwa 10 Sekunden gleichzeitig zu erreichenden Maximum. Stille, etwa fünf Sekunden lang. Ausatmen und gleichzeitig allmählich dunkelnde Beleuchtung bis zu dem nach etwa zehn Sekunden gleichzeitig zu erreichenden Minimum (Beleuchtung wie bei 1) und sofort danach Schrei wie vorher. Stille, etwa fünf Sekunden lang. Dann Dunkel.

https://dewiki.de/Lexikon/Atem_(Samuel_Beckett)

Gleichzeitigkeit

Verschiedene Handlungen können im Theater auch gleichzeitig erfolgen und vom Publikum beobachtet werden..

Ob man nun die Räume explizit aufteilt oder sie allein gedanklich als Räume etabliert, ist dabei nicht wesentlich. Durch diese Synchronizität kann in beiden Fällen die Gleichzeitigkeit räumlich (oder sogar zeitlich) getrennter Geschehen dargestellt werden.

Zeit auf der Bühne Dramaka
Toshiki Ikada, The Vaccum Cleaner, Münchner Kammerspiele beim Berliner Theatertreffen 2020

Zeit anhalten

Hier handelt es sich um einen klassischen Verfremdungseffekt aus dem epischen Theater Bertolt Brechts. Die Szene erstarrt, jemand tritt heraus.

Im Forumtheater nach Augusto Boal ist diese Technik zentrale Methode zur Bearbeitung einer reellen Situation.

Hier eine Beschreibung von Roland Schimmelpfennigs Stück „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ (DE 2010), das diese Elemente bewusst verwendet:

„Schimmelpfennig seziert seinen Text, indem er die Figuren in knappen Abständen aus der Szene heraustreten lässt und sie ihre Gedanken aussprechen dürfen. Dabei greifen sie oft vor, denken Dialoge zu Ende und sprechen den Subtext, der im Stück nur an den immer verzweifelter werdenden Minen aller Beteiligten zu lesen ist. Danach spult er das Geschehen zurück und wiederholt die vorangegangene Szene in exakt gleicher Spielweise.“ [https://orf.at/v2/stories/2031966/2031965/]

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