Der „Electrical Walk“ als Inszenierung-Methode

Der „Electrical Walk“ als Inszenierung-Methode

Neulich im ZKM

…habe ich an einem sog. „Electrical Walk“ teilgenommen und dabei elektromagnetischen Wellen und dem Sound des Stroms in der Umgebung nachgehört.

der-electrical-walk-als-inszenierung-methode
Electrical Walk, Paris 2019 © C. Kubisch

Die Komponistin Christina Kubisch experimentiert seit Jahrzehnten mit den normalerweise unhörbaren Geräuschen in unzähligen Städten der Welt. Diese macht sie über Kopfhörer zugänglich, in welchen Kupferspulen verbaut sind, so dass die elektrischen Ströme je nach Quelle als Brummen, Ticken, Grollen oder Pfeifen zu hören sind.

Ausgestattet mit dieses Kopfhörern wurden wir selbst auf die Reise geschickt, um Computer, Diaprojektoren, elektrische Ladestationen, Leuchtreklamen, Glastresorspiele u.v.m. zu erkunden.

So war auf einmal eine ganze Gruppe konzentrierter Personen mit roten Kopfhörern und seltsamen Bewegungen im Stadtraum zu beobachten.

Die Electrical Walks – Elektrische Spaziergänge

Seit Ende der 1970er Jahre arbeitet die Komponistin Christina Kubisch mit dem System der elektromagnetischen Induktion, das sie von der Grundtechnik zu einem individuellen künstlerischen Werkzeug entwickelte. 2003 startete sie eine neue Reihe dieser Arbeiten im öffentlichen Raum, die die elektromagnetischen Felder urbaner Umgebungen in Form von Stadtspaziergängen verfolgen. Die Electrical Walks wurden in mehr als 75 Städten auf der ganzen Welt präsentiert.ElektricalWalks

Die Palette dieser Geräusche, ihr Timbre und Volumen variieren von Ort zu Ort und von Land zu Land. Sie haben eines gemeinsam: Sie sind allgegenwärtig, auch wenn man sie nicht erwarten würde. Die Klänge sind ziemlich musikalisch. Es gibt komplexe Schichten von hohen und niedrigen Frequenzen, Schleifen rhythmischer Sequenzen, Gruppen von winzigen Signalen, langes Dröhnen und viele Sounds, die sich ständig ändern und schwer zu beschreiben sind. Einige Geräusche sind auf der ganzen Welt ähnlich. Andere sind spezifisch für eine Stadt oder ein Land und sind nirgendwo anders zu finden. Siehe auch: christinakubisch.de.

Maps

Auf electricalwalks.org kann man die vielen Städte sehen, in denen die Spaziergänge schon angeboten wurden. Für Oslo und Tbilissi finden sich darüber hinaus interaktive Walks mit Bildern und Sounds, die einem solchen Walk nachgearbeitet sind.

Beispielhaft findet man einen elektrischen Stadtplan für Paris 2019 hier.

Die Hörenden

der-electrical-walk-als-inszenierung-methode
Electrical Walk, Gera 2021 © C. Kubisch

Sich im Stadtraum zu bewegen und nach elektrischen Quellen zu suchen, bringt eine ganz besondere Art der Fortbewegung mit sich. Gemeinsam war uns allen eine konzentrierte Haltung, Bewegungen auf verschiedenen Ebenen, mal klares, gezieltes, mal suchendes und tastendes Gehen, und immer eine zielgerichtete Attitüde.

Aus diesem Grund bin ich auch gern einmal herausgetreten aus der Hörenden-Situation und habe die anderen bei ihrer Soundsuche beobachtet. Sofort fiel mir auf, wie klar die Bewegungen der Hörenden waren, einfach aus dem Grund, weil sie wussten, was sie wollten, nämlich die nächste interessante Geräuschquelle zu finden.

Die Bewegungsmuster

Choreografie

Eine Choreografie bezieht alle Dimensionen der tänzerischen Bewegung mit ein: Raum (Wege, Ebenen, Form, Design, Umfang), Zeit (Rhythmus, Tempo) und Energie (Dynamik, Kraft, Anstrengung, Fluss).

Raum gibt dem Tanz seine Beziehungen und Designs und beinhaltet

  • den Bewegungsumfang, ob ausschweifend oder auf kleinstem Raum,
  • die Bewegungsrichtungen: nach vorne, nach hinten, seitlich, diagonal, etc.,
  • die Wege durch den Raum: gerade, eckig, schlängelnd, etc.,
  • die Ebenen der Bewegung: im Liegen, auf Knien, im Stehen, springend, fliegend in der Luft, oder lehnend (an die Wand oder andere Person),
  • die Formen, die vom Körper oder von Gruppen von Körpern gemacht werden, und
  • die Unterscheidung von persönlichem Raum und räumlichen Beziehungen.

Zeit umfasst das Tempo und die rhythmischen Muster, entweder in Bezug auf Musik oder ohne Musik. Energie ist die Kraft, das Gewicht, die Spannung oder die Anstrengung der Bewegung. Unterschiede im Gebrauch der Energie geben Tanz seine Dynamik und Bewegungsqualität, welche in den verschiedenen Arten und Gattungen stark variieren können.

Im Rahmen eines Seminars habe ich auch bereits mit diesen Elementen und insbesondere mit der Bewegungslehre von Rudolf von Laban gearbeitet, um ein bestimmtes, dem Text angemessenen Bewegungsmuster zu erhalten: Siehe den Beitrag Netzwerkkompetenz.

Arbeit an Figuren und Texten

In meinem Schauspielunterricht habe ich den Figuren gern eine andere Handlungsanweisung unterlegt, als sie der Text nahelegen würde. Denn das führt dazu, dass sich die Perspektive auf den Text verändert, dass der Rhythmus des Sprechens verändert wird und die Figur eine zusätzliche Facette erhält.

Gerade bei SchauspielschülerInnen, die gern frontal zueinander stehen, um ihren Text zu sprechen, kann der überstarke Bezug aufeinander gebrochen werden. Denn auch in der Realität schauen sich zwei Personen nicht unbedingt an, wenn sie sich bestimmte Dinge sagen. Sich gegenüberzustehen und zu sprechen hat sogar etwas von Konfrontation oder Aussprache.

Das Wichtigste beim Monolog bzw. Dialog ist meiner Meinung nach das Motiv, also die innere Haltung, aus dem heraus eine Figur ihren Text spricht (ist sie schüchtern, wütend, entsetzt…). Das bedeutet dann auch herauszufinden, in welchem Verhältnis die Figuren zueinander stehen – sind es alte Freunde, Konkurrenten um eine Stelle, Mutter und Sohn o.ä. Hat der eine Angst vor der anderen, ist sie neidisch, will sie was verbergen etc. – damit könnte dieser permanenter Bezug auf die andere Figur schon gut durchbrochen werden, indem man ganz woanders hin spricht. Das Publikum weiß trotzdem genau, wer gemeint ist.

Auch einen Dialog mit einem Boxtraining zu unterlegen oder ein Gedicht im Handstand sprechen zu lassen – das gibt dem Experimentieren mit Text schon neuen Raum.

Theater ist ja in erster Linie Handlung, und wenn die Teilnehmenden wissen, was sie auf der Bühne konkret tun sollen, kann das sehr helfen.

Und dafür sind diese „Electrical Walks“ ein wunderbarer Ausgangspunkt!

Der Kühlschrank spricht zu mir.

Woher nehme ich den nächsten Text?

In dem Zusammenhang habe ich vor Kurzen einen Trailer von der Volksbühne Berlin (wieder-)entdeckt über eine Inszenierung von Molières Don Juan durch Rene Pollesch. Ich weiß zwar nicht mehr genau, was die Figuren dort auf der Bühne gerade treiben, es gibt dem Text aber mit Sicherheit eine große Dynamik und besondere Perspektive.

www.facebook.com/reel/1046025213870545

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert