Die Arbeit der Schauspielerin an der Rolle

Die Arbeit der Schauspielerin an der Rolle

„Den Menschen, die Schauspieler sein wollen und sich dazu berufen fühlen, steht ununterbrochene anstrengende Arbeit bis zu ihrem Lebensende bevor. Denken Sie stets daran, dass Sie für eine große, lautere Sache hergekommen sind. Es gibt keinen höheren Genuss als die Arbeit in der Kunst.

Das ist mein Vermächtnis. Es fußt auf den Erfahrungen von sechsundfünfzig Jahren, die ich in diesem Theaterkessel schmore.“

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863 – 1938)
auszugsw. zit aus: Simhandl, Peter, Stanislawski Lesebuch, Berlin 21992, S. 31 ff. 

Die Arbeit an der Rolle

Da liegt er nun, der neue Text, drinnen ein neues Abenteuer, ein neues Leben, eine neue Entwicklung, insgesamt ein neues, frisches Projekt.

Und nun? Wie beginnen?

Gehen wir der Einfachheit davon aus, dass wir es hier mit einem „klassischen“ Theaterstück mit verteilten Rollen und dramaturgischer Handlung zu tun haben (keine postdramatische Performance oder Konzeptkunst, das wäre anderes Arbeiten).

Das Wichtigste zu Beginn: Lesen, lesen, lesen.

Das heißt, den Text der Figur immer und immer wieder lesen und dabei soviel wie nur irgend möglich über die Figur herausfinden, über die Zeit, in der sie lebt, über ihr Leben, über ihre Gefühle usw.usf.

Vor jeder szenischen Arbeit sollten der Darstellerin/ dem Darsteller zumindest die so genannten W-Fragen (Stanislawski, s.u.) klar sein, denn erst wenn das Motiv für Text und Handlung wirklich verstanden ist, kann es auch den Zuschauer und die Zuschauerin erreichen.

Und zwischendurch: Wieder Lesen, den Text lesen, laut lesen, davon träumen, nochmal lesen!

Für die entsprechenden Szenen heißt es herauszufinden:

W-Fragen_Stanislawski_Dramaka

1. Welche Zeit ist es?

2. Wo bin ich (räumlich/innerlich)?

3. Was umgibt mich?

4. Was tat ich vorher?

5. Welches sind die gegebenen Umstände?

6. Welches sind meine Beziehungen?

7. Was möchte ich, wenn ich die Bühne betrete?

8. Was stellt sich mir in den Weg?

9. Was tue ich, um das zu erhalten, was ich möchte?

Die Beantwortung dieser Fragen – oder je nach Größe der Rolle auch Teile davon – bildet die Grundlage für die weitere Rollenarbeit.

Text- und Rollenanalyse

Hier geht es nun um die gedankliche Einfühlung in die Rolle, die auch die Grundlage für eine ausführliche Rollenbiographie darstellt. Folgende Aspekte können für Erstellung der Rollenbiografie eine Rolle spielen (sic!):

1. Verhältnis des Darstellers (Rollenträgers) zur Figur

Was reizt den Darsteller/ die Darstellerin an dieser Figur, was stößt sie ab, was kennt er von seiner eigenen Biographie, wie würde sie sich in der Situation verhalten, etc.

2. Biographisches zur Figur

Auseinandersetzung mit den physischen, sozialen und emotionalen Lebensumständen der Rollenfigur, d.h. Vorleben, bzw. Vorgeschichte als Kind oder Jugendlicher, jetzige Situation wie verheiratet, Kinder, Beruf, Wünsche, Träume, Weltsicht, Ängste, Motivation und Emotionen, etc.

Dies schließt auch weitere soziale Rollen ein, die von der Figur im Alltag eingenommen werden könnten.

3. Entwicklung der Figur

Ist sie am Anfang anders als am Ende, was hat die Entwicklung bewirkt? Ziele der Figur etc.

4. Verhältnis der Figur zu anderen Menschen

Zu Familienmitgliedern, zu Freunden, Vorgesetzten, Alten, Fremden etc.

Welche Absichten, Wünsche, welche biografischen Ereignisse haben die Figur dazu veranlasst, sich so zu den Menschen des Stücks zu verhalten, wie sie sich verhält.

5. Verhalten der Figur

Angewohnheiten, wie sieht es zu Hause aus, Redeweise, Haltung etc.

Tierarbeit: welchem Tier ähnelt die Figur (Bewegung, Verhalten, Physiognomie)

6. Eigenschaften der Figur

Versager – Gewinner, aktiv – passiv, liebevoll – kalt etc. Gibt es eine Veränderung der Eigenschaften im Verlauf des Stücks? Hat die Figur manchmal verwirrende, unerwartete, gegensätzliche Eigenschaften?

7. Vorschlag: Schaffung eines Antityps/ einer Gegenfigur

Gerade die Arbeit mit inneren und äußeren Widerständen kann zu mehr Glaubwürdigkeit führen. Warum ist meine Figur so und nicht anders?

Nach der Beantwortung aller Fragen und vieler mehr ist es möglich, ein komplexes Bild mitsamt der Biografie bzw. der Geschichte der Figur und daraus folgend ein umfassendes Verständnis für die Figur zu entwickeln.

Auf der Probebühne

Nachdem ich nun schon viel über die Figur gelernt habe, wie beginne ich, ihr auf der Bühne Leben einzuhauchen?

In allen Zeiten gab und gibt es unzählige Techniken, die ein Schauspieler anwenden kann, doch im Prinzip sind das alles Mischformen bzw. Nischentechniken, denn im Grundsatz sind genau drei Grundrichtungen der Rollenarbeit und -gestaltung wesentlich:

1. Die Arbeit „von innen nach außen“ – Stanislawski

2. Die Arbeit „von außen nach innen“ – Grotowski

3. Der Schauspieler als Träger der Figur – Brecht

Grundlegende Schauspieltechniken im Überblick

1. Die Arbeit „von innen nach außen“ – Stanislawski

Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle Dramaka
Teil des Hauptwerkes von Konstantin S. Stanislawski

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863 – 1938, Moskau), russischer Schauspieler, Regisseur, Theaterreformer und Vertreter des Naturalismus.

Das „klassische Schauspiel“ bestand nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa zu Stanislawskis Zeiten aus ausladenden Gesten, theatralischen Attitüden und falschem Pathos. Dagegen strebte Stanislawski ein wahrhaftiges Theater an:

Der Schauspieler solle sich unter Zuhilfenahme eigener Erfahrungen und Gefühle („emotionales Gedächtnis“) weitgehend mit seiner Rolle identifizieren und aus dem eigenen Erleben heraus handeln. Dabei soll er sich immer wieder die Frage stellen: „Was wäre, wenn…“, um die Reaktionsweisen seiner Figur in verschiedensten Situationen herauszufinden. Das intuitive Handeln aus der Figur heraus ermöglicht dann umgekehrt auch wieder inneres Erleben.

Diese beiden Komponenten fasst Stanislawski unter dem Begriff der „psychophysischen Handlung“.

Um eine persönliche Verbindung zu ihrer Rolle herzustellen, müssen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler immer wieder den sog. W-Fragen stellen und sich dadurch ihrer Figur immer bewusst sein:

Wer bin ich? Wo bin ich, woher komme ich? Was will ich? Welchen Zweck hat mein Handeln?

Die Bühne soll möglichst realistisch und auch mit den entsprechenden Requisiten aufgebaut sein – z.B. soll ein Getränk wirklich getrunken, eine Versteck in einer Schublade wirklich vorhanden sein, um den Darsteller die größtmögliche Einfühlung in Rolle und Situation zu gestatten.

Das „Stanislawski-System“ wurde weltbekannt und beeinflusste u.a. auch als „Method Acting“ die amerikanische Schauspielerausbildung (Robert de Niro, Jodie Foster uvm.).

Wikipedia-Eintrag K. S. Stanislawski

2. Die Arbeit „von außen nach innen“ – Grotowski

Jerzy Grotowski Dramaka
Grotowski-Porträt von Zbigniew Kresowaty, 1983

Jerzy Grotowski (1933 Polen  – 1999 Italien), polnischer Regisseur und Theaterleiter, -methodiker, -theoretiker und -reformer.

Mit Grotowskis Namen ist untrennbar das „Arme Theater“ verbunden. Es beschreibt ein Schauspiel, das sich ohne Schminke, Bühnenbild oder Lichteffekte allein auf den Schauspieler konzentriert, auf seinen Körper, seine Präsenz, seinen Selbstausdruck.

Im Schauspieltraining steht der Abbau von Blockaden, von Widerständen und Beschränkungen der Darstellenden (via negativa) im Vordergund. Dies gelingt durch ein hartes körperliches und psychisches Training, mit dem ein Überschreiten der eigenen Person ermöglicht werden soll.

Die innere Bewegung wird an die äußere Bewegung gebunden, Emotion durch Motion entwickelt und umgekehrt. Mit dieser Methode erlangen die Schauspielerinnen und Schauspieler eine außerordentlich dramatische und körperliche Intensität und eine geradezu greifbare Präsenz im Raum und entwickeln damit über die äußere Haltung den Zugang zu ihrer Figur.

Wikipedia-Eintrag Jerzy Grotowski

3. Der Schauspieler als Träger der Figur – Brecht

Bertolt_Brecht_Arbeit an der Rolle DramakaBertolt Brecht (1898 – 1956) vertritt die Ansicht, die Schauspieler müssten eine kritische Distanz zum Dargestellten behalten und ihrem Spiel gezielt die Illusion nehmen, damit die sozialkritische Aussage des Stücks im Vordergrund stehen kann. Dies erreichen sie durch den sog. Verfremdungseffekt (VEffekt). Die SpielerInnen treten aus der Rolle heraus und wenden sich direkt ans Publikum, sie singen Lieder, tragen plakative Schilder über die Bühne – all diese Elemente sollen das Publikum aus der Lethargie reißen:

Glotzt nicht so romantisch!

B. Brecht

Für die Arbeit an der Rolle ist diese Methode sehr hilfreich, wenn die Figur in unterschiedlichen Situationen aus sich selbst heraustreten kann und diesen Moment gründlich hinterfragt (was ist gerade meine Absicht? geht es auch anders? was fühle ich? z.B.). Oder der Spieler/die Spielerin einfach mal deklamiert, singt….

Oft werden Brecht und Stanislawski als Gegenspieler in ihren Methoden betrachtet, doch das ist ein Missverständnis. In der Tat stellt sich Brecht ganz und gar nicht gegen die emotionale Übernahme der Figur durch den Schauspieler, wehrt sich aber vehement gegen den Begriff der „Einfühlung“. Doch was Brecht damit bezeichnete, ähnelte mehr Stanislawskis „Hysterie“, was dieser nicht weniger verurteilte.

Wikipedia-Eintrag Bertolt Brecht

Ich bin ein großer Fan des Films über die fiktive Verfilmung von Brechts Dreigroschenoper, in dem sich Leben, Werk und Theorie wunderbar verbinden!

Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm Deutschland/ Belgien 2018

Noch mehr Fragen an die Rolle

Im Folgenden finden sich einige der W-Fragen Stanislawskis nochmal im Ablauf. Der Schweizer Theaterpädagoge Felix Rellstab hat dies Fragen mit anschaulichen Beispielen und Übungsaufgaben versehen, die verdeutlichen sollen, worauf zu achten ist.

Bitte alle Aufgaben auf die zu probende Figur übertragen!

Vgl.: Rellstab, Felix, Handbuch Theaterspielen, Bd. 2, Wege zur Rolle, Wädenswil 22007, S. 130 – 133

Zur Figur

Das Wer? Die Figur und ihre Beziehungen

Wir spielen Auftritte, bei denen die Beziehungen zu einer an­wesenden oder im Raum vermuteten oder erwarteten Person die Bedeutung der andern Umstände überstrahlen.

Beispiele:

  • Das Kind kommt zu spät, fürchtet sich vor dem Vater.
  • Der Direktor stürmt wütend ins Büro seines Untergebenen.
  • Ein Angestellter kommt zum Vorge­setzten, um Vorwürfe zu machen, um sich zu entschuldigen, um mehr Lohn zu verlangen usf.

Eine nächste Aufgabe: Wir spielen Auftritte, die im Moment des Hereinkommens umschlagen, brechen.

  • Freudig eintreten zu Hause, eine Person liegt ohnmächtig am Boden.
  • Ängstlich eintreten, ein Freund ist da.
  • Eilig im Zimmer den Mantel holen wollen, jemand sitzt weinend am Tisch.

Der Eintritt ist bis zum Bruch mit gleicher Konzentration durchzuführen, wie die Auftritte, die nicht brechen. Achtung: nicht schon ange­spannt oder verspannt die zweite neue Wahrnehmung, die meist eine Überraschung ist, anpeilen und vorwegnehmen!

Mit ganzer körperlich-geistiger Konzentration die Merkpunkte des ersten Zustandes ansteuern und durchhalten, damit die Reaktionen auf die Merkpunkte des überraschenden zweiten Zustandes umso markanter ausfallen.

Das Wo? Der Ort, der Raum, die Atmosphäre

Die Aufgaben: Eintreten in eine evangelische/katholische Kirche, in eine verrauchte Kneipe, in ein Fünfsternhotel, ins Büro eines Untersuchungsrichters, in eine dampfende Waschküche, in einen Gefrierraum, ins eigene dunkle Zimmer, in ein fremdes dunkles Zimmer, in eine Fa­brikhalle, usf.

Wer die Tür-Übung ausgekostet hat, sollte auf der Bühne nie mehr gedankenlos in den Raum platzen, wenn er auftritt – außer genau dies sei in der Situation der Szene verlangt!

Vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag Einen Raum betreten-Challenge, eine gute Übung dafür.

Das Woher? Die Vorgeschichte

Die Aufgabe lautet: In den Raum treten, wobei das Woher?, die Vorgeschichte, erkennbar wird. Was hat die Figur soeben erfahren? Wo war sie gerade? Wer ist ihr begegnet? Wie war draußen die Atmosphäre?

Diese eine Bedingung wird dann deutlich, wenn das Vorher den Zu­stand und die Handlungen des Ein­tretenden stark beeinflusste. Draußen ist es heiß, der Wind weht heftig oder es liegt Schnee. Die oder der Eintretende wurde bedroht, hat den oder die Geliebte/n getroffen oder ist von einem langen Marsch erschöpft, ist durstig oder betrunken…

Schon jetzt zeigt sich, dass sich kaum jemand ausschließlich auf das Woher? beschränkt, ja beschränken kann. Wer aus der Hitze kommt, wird auch das Wo? beantworten: Die Kühle im Raum ist ihm willkom­men oder der Flüchtende sieht sich im Raum um wie jemand, der den Raum nicht kennt. Das Woher? behält den Hauptakzent, aber die an­deren Bedingungen der Situation spielen bereits herein.

Das Wozu? Die Absicht

Wir betreten den Raum, wobei deutlich wer­den muss, weshalb, mit welcher Absicht der/ die Eintretende in den Raum kommt. Kommt er, um eine Person zu treffen, jemanden zu ver­folgen oder sucht er Schutz im Raum? Meint sie, den Geliebten zu treffen, oder kommt einer vor Ge­richt, um sich hartnäckig zu verteidi­gen? Will sie sich für eine Stelle be­werben und deshalb einen guten Eindruck machen oder ins Zimmer dringen, um eine Freundin zu über­raschen oder den Freund sanft zu wecken?

Wie deutlich sich die Lösung der Aufgabe dem Zuschauer vermittelt, ist meist schon beim Öffnen der Türe entschieden. Der eine stößt die Tür auf, der andere öffnet erst einen Spalt oder öffnet und schließt die Türe selbstverständlich und manch einer beginnt sein Spiel erst, nachdem er die Türe bedeutungslos zugemacht hat! Schon wie die Spieler den Türgriff ergreifen, bevor sie sichtbar werden, entscheidet über die Glaub­würdigkeit und Genauigkeit der Szene.

Das Wohin? Das Nachher

Auftritte sind auf den ersten Blick namentlich von der Vorgeschichte, von der Absicht und vom Ort bestimmt. Das über die Szene hin­ausführende Nachher kommt beim Aufritt scheinbar kaum zur Wirkung.

Tatsächlich aber sind viele Auftritte auch vom Nachher mitbestimmt, wie die folgenden Aufgaben zeigen.

  • Jemand tritt schnell in den Raum um Wasser zu trinken: Er will die Straßenbahn noch erreichen.
  • Eine Frau tritt ein, geht zum Schrank, zieht sich sorgfältig an: Sie will zu ei­nem Fest, zu einer Beerdigung, auf eine große Reise.
  • Jemand kommt, um sich zu verabschieden: Draußen wartet das Auto, um zu einer Hochzeit zu fahren, ins Gefängnis, ins Spital oder zum Flughafen usf.

Bedenken wir: Wir konzentrieren uns zunächst ausschließlich auf das Hereinkommen, auf den Bewegungsablauf beim Öffnen und Hereinkommen und ganz besonders auch die Wahrnehmungen. Da lässt sich ablesen, ob der Spieler sich nicht nur mit der Türe beschäftigt, sondern auch das fernere Ziel in seine Vorstellung einbezieht: Gericht, Hochzeit, die weite Reise.

Text und Handlung

Textbuch Arbeit an der Rolle Dramaka

Aber wir haben ja auch noch Text!

Ganz unabhängig von der Technik des Sprechens (ein gesondertes Thema) gehe ich hier vor allem auf den Zusammenhang zwischen Text und gestischer Handlung der Schauspielerin ein. Dazu hole ich mir zwei Vertreter bekannter Theatermethoden zu Hilfe.

Viel wichtiger als die einzelnen Wörter ist nämlich der Gestus (= Ausdruck, Haltung), in dem  der Satz gesprochen wird. Bertolt Brecht sagt:

Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen. Bewegungen, welche Höflichkeit oder Zorn oder Überredenwollen oder Spotten oder Memorieren oder Überrumpeln oder Warnen oder Furchtbekommen oder Furchteinflößen bedeuten.

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Bd. 12, Ffm. 1967, S. 458

Hans Martin Ritter erläutert:

Im Anfangsstadium ist es demnach hilfreich, dieses körperliche Bewegungsmoment auch deutlich zu entfalten. Ist eine solche körperliche Aktion ein letztlich nicht notwendiges oder tragendes Element des Verhaltens in einer Situation oder soll sie es nicht sein, so kann sie auch wieder weitgehend reduziert werden. Bleibt als gestisches Ereignis schließlich nur die Äußerung im Wort, so muss der körperliche Impuls (…) in der Artikulation wirksam bleiben.

Die Suche nach dem Handlungskern der Äußerung, anders gesagt der Versuch, den vorgegebenen Text in eine Situation einzubinden, in der gehandelt wird, ist ein grundlegender Schritt dieser Arbeit.

Hans Martin Ritter, Sprechen auf der Bühne. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Leipzig 22009, S. 174

Das bedeutet, dass sich aus Haltung und Handlung der Figur der Text aus sich heraus ergibt. So soll er dann auch im Idealfall gesprochen werden.

Wer es stattdessen analytisch fassen will, kann versuchen, Text und Handlung zu verzahnen, indem er/ sie einen regelrechten Plan erstellt:

Handlung (ebenso: Gedanken/ Gefühle/ Aktionen): vor den Sätzen – zwischen den Sätzen – nach den Sätzen.

Organischer dürfte es aber vermutlich werden, erst mit Text und Handlung zu probieren, bis das gewünschte Ergebnis entsteht und wiederholbar gemacht werden kann.

Aber geht es denn auch umgekehrt? „Gibt es keinen Weg, durch die Sprache an die Szene heranzukommen?“

So antwortet der Schauspiellehrer Lee Strasberg während der Arbeit an einer klassischen Szene auf diese Frage:

Ich habe noch keinen gesehen. Ich habe große Schauspieler an Szenen scheitern sehen, weil die Sprache zwar wunderbar, der Inhalt der Szene jedoch sinnlos war. Mir persönlich ist es lieber, wenn Sie die Sprache vernachlässigen und dafür die Szene glaubhaft spielen.

zit.n. Hans Martin Ritter, Sprechen auf der Bühne. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Leipzig 22009, S. 11

Das Requisit

Eine gute Möglichkeit, mit der Rolle ins Spiel zu kommen, ist der Umgang mit einem Requisit, d.h. einem Gegenstand oder Kostümteil, das für die Figur eine besondere Bedeutung hat. Welches könnte das für die gewählte Rolle sein? Ein Medaillon, ein Gehstock, Asthmaspray, ein Schlüsselbund?

Der Umgang mit einem Requisit erleichtert oft den Einstieg, wenn man sich als Figur plötzlich allein auf der Bühne wiederfindet. Aber Achtung! Wenn es eingesetzt wird, ist es immer da, ist Spielpartner, solange bis es bewusst abgelegt wird!

Beispielhaft findet sich auf der Seite schule-bw.de eine recht umfangreiche Probensequenz mit einem Stock bzw. einem Taschentuch, um die Arbeit mit einem Requisit einmal zu veranschaulichen. Empfehlung!

Beispielhafter Ablauf eines Schauspielkurses

Meine halbjährlichen Schauspielkurse, die ich zwischen 2009 und 2015 für erwachsene Interessierte gegeben habe, hatten einen stark gegliederten Aufbau, der die Teilnehmenden für Raum, Körper, Aktion und Stimme sensibilisierte, bis es dann im letzten Drittel um die Erarbeitung und Präsentation eines Monologs unter Einbeziehung möglichst aller Elemente ging. Konkret handelte es sich um folgende Stationen:

Etappen im Schauspieltraining

ThemaInhalteLernziel
Grundlagen Schauspiel1. Raum
2. Raum + Text
Bewusstmachen der Bedeutung der eigenen Position im Raum, Schärfung der Wahrnehmung: „Alles im Blick haben“.
Raum + Haltung1. Körpersprache (Statuentheater)
2. Gestik
3. Verbindung Raum – Text - Haltung
Erprobung verschiedener körpersprachlicher Mittel (Mimik, Gestik, Haltung), Wahrnehmung der Wechselwirkung von innerer und äußerer Haltung.
Improvisation I1. Akzeptieren/ Blockieren
2. Erfinden von Szenen ohne Textvorgabe
Körpersprache/ Körperhaltung bewusst wahrnehmen und einsetzen.
Improvisationsfähigkeit üben.
Improvisation II1. Arbeit an Status und Haltung
2. Szenisches Spiel
Lernziel: Gesprächsführungstechniken („Ja, aber“/“Ja, und“)
Training des Unvorhergesehenen, der Phantasie, der Assoziationskraft:
„Wirklicher Unsinn entsteht nach einem mühsamen Prozess und braucht seine Zeit.“ (K. Johnstone)
Textarbeit1. Interpretation durch Stimme und Sprache, ArtikulationErprobung unterschiedlicher Arten eines Vortrags, um zum einen neue Facetten eines Textes hervortreten zu lassen, zum anderen um ihn freier und gelöster zu sprechen. Übung von Artikulation und Modulation.
Rollenarbeit I1. Rollenbiografie
2. Requisit
Die Frage: „Wer bin ich?“, die sich in einer jeden Situation stellt, wird hier auf eine Figur angewendet und ausgestaltet, der sinnvolle und klare Umgang mit Gegenständen geübt.
Rollenarbeit II1. Szenische Arbeit, Gestaltung der Figur
2. Der Monolog im Kontext (Vor- und Nachgeschichte)
Dem Auftritt mit fremdem Text und in einer fremden Rolle Kontur und Präsenz geben, so dass anhand von literarischen Figuren die eigene Rolle, die man in unterschiedlichen Situationen einnimmt, glaubhaft und authentisch ausgefüllt und  gestaltet werden kann.

Diese Vorgehensweise empfehle ich auch für jede andere Rollenarbeit.

Beispielmonolog

Hendrik Ibsen, Nora oder ein Puppenheim
3. Akt, Übersetzung: Marie von Borch

NORA

Nein, glücklich bin ich nie gewesen. Ich glaubte es, aber ich war es nie. Nur lustig. Und du warst immer so freundlich zu mir. Aber unser Heim war nichts andres als eine Spielstube.

Ich habe nun acht Jahre lang sehr geduldig gewartet; denn – Gott, ich sah ja ein, dass das Wunderbare nicht so wie etwas Alltägliches kommt. Dann brach dieses Unglück über mich herein; und da war ich unerschütterlich fest überzeugt: jetzt kommt das Wunderbare!

Aber als dein Schreck vorüber war – nicht über das, was mir drohte, sondern über das, was dir bevorstand – da war’s in deinen Augen, als sei gar nichts geschehen. Ich war wieder wie vorher deine kleine Singlerche, deine Puppe.

In diesem Augenblicke wurde mir klar, dass ich acht Jahre lang mit einem fremden Manne zusammengelebt, dass ich ihm drei Kinder geboren – oh, der Gedanke ist mir unerträglich! Ich könnte mich selbst in Stücke reißen.

Lebewohl, Torvald! Ja, nun ist es also vorbei. Hier leg ich die Schlüssel hin.

Ach, Torvald, ich glaube nicht mehr an das Wunderbare. Dass ein Zusammenleben zwischen uns beiden eine Ehe würde. Leb wohl.

Im Beitrag „Subtext“ zeige ich die unterschiedlichen denkbaren Intentionen der Nora und ihre dementsprechende Haltung ebenfalls an diesem Beispiel.

Literaturtipps für Vorsprechrollen

  • Berend, Uwe/ Spambald, Eva (Hg.), 101 Monologe zum Vorsprechen, Studieren und Kennenlernen, Berlin 32007
  • Mader, Paula Bettina, Vorsprechen mit modernen Monologtexten, Berlin 2005
  • Wermelskirch, Wolfgang (Hg.) Texte für Vorsprechen und Acting-Training 1 + 2, Berlin 2003/ 2008

Noch mehr Vorsprechrollen gibt es im Beitrag 25 Rollenmonologe zum Üben und Vorsprechen.

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