Eine ikonografische Haltung: die Pietà

Eine ikonografische Haltung: die Pietà

Wenn man darauf achtet, begegnet sie einem immer wieder: Maria als die „Mater Dolorosa“, die „Schmerzensmutter“, die ihren toten erwachsenen Sohn im Schoß hält – eine Pietà1Was lateinisch soviel bedeutet wie „Frömmigkeit“ oder „Mitleid“ – die Kurzform für „Unsere Herrin vom Mitleid“ (domina nostra de pietate)..

Darf man, wenn ein Krieg in solcher Nähe stattfindet, in dem die Pietà nicht nur künstlerischer Ausdruck oder religiöses Gedenken, sondern tägliche Realität ist, genau über jenes einen Beitrag schreiben?

Ich denke schon. Dieses Bild der trauernden Mutter ist universell und vielschichtig, es bezieht sich auf die Tatsache des Todes wie auch auf die komplexen Gefühle von Trauer, Schmerz, Verstehen(-Wollen), Glauben und Mitleid(en), wie sie in so vielen Situationen in anderen Zusammenhängen und der Kunst zu finden sind.

Hier soll es um genau solche Beispiele gehen.

Ikonografie – der Begriff

Unter Ikonografie versteht man die Deutung von Symbolen, Motiven und Themen in Werken der bildenden Kunst. Als Wissenschaft befasst sich die Ikonografie mit der Beschreibung, Form- und Inhaltsdeutung von (alten) Bildwerken.

Wir kennen das Icon! Ein Ikon ist die stilisierte Abbildung eines Gegenstandes.

Icon Glühbirne

 

Ach so!

 

Eine Ikone dagegen ist eine Person oder eine Sache, die bestimmte Werte, eine Vorstellung oder ein Lebensgefühl verkörpert. Ikonen können zeitbedingt ganz unterschiedlich sein.

Madonna Ikone
Madonna, „Blond Ambition“-Tour 1990

Christliche Ikonen gibt es seit dem frühen 14. Jahrhundert, v.a. in der Malerei. Ihre Entstehung hängt mit der verstärkten Hinwendung zum Leiden Christi und der Marienverehrung in dieser Zeit zusammen.

Christus_Isenheimer_Altar
Matthias Grünewald, Isenheimer Altar (Ausschnitt), 1516

Es wurden immer mehr Bilder (Holzschnitte, Tafelbilder) einzelner Szenen aus der Passion Christi gefertigt, welche als Andachts- bzw. Imaginationshilfe dienen sollten. „Das Ziel ist dabei eine Intensivierung der Andacht durch die lebhafte Ausmalung des Geschehens.“ (Noll 2007: 96) Denn erst wenn man sich in das Leiden Christi tief genug hinein versetze – also (mit-)leide –  sei man in der Lage, dem Dargestellten nah zu sein und auch an der Erlösung teilzuhaben (ebda.).

Im 20. Jht. gelangten Bilder und Fotografien ins kollektive Gedächtnis, die historische Momente abbilden – man denke an das Mädchen aus Hiroshima oder den Chinesen vor dem Panzer – hier steht das Bild eines Individuums für ein prägendes politisches Ereignis.

Ikonografisch wurde später auch die „Raute“ von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber erst nachdem sie eine lange Rezeptionsgeschichte von Verwunderung, Spott, Häme und schließlich Kult hinter sich hatte. Im Bundestags-Wahlkampf 2013 entstand aus unzähligen Fotos von UnterstützerInnen ihre charakteristische Handhaltung als einzige Aussage auf einem Riesen-Plakat in Berlin:

Ikonografie Merkel-Raute
Foto: dpa

Die Pietà

Pieta_Michelangelo_Ikonografie
Die Pietà von Michelangelo, um 1499, in: Michelangelo und Raffael im Vatikan, Uffizio Vendita Pubblicazioni e Riproduzioni dei Musei Vaticani (Hg.), S. 2

Eine der berühmtesten Ikonen ist die Pietà. Die Mutter Maria hält den Leichnam ihres Sohnes, des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus, im Schoß. Im Vatikan steht die von Michelangelo gestaltete Skulptur der Pietà (s.o.).

Kollwitz_Pieta
Käthe Kollwitz, Pietà (Mutter mit totem Sohn), 1937-1939, Bronze

Um nochmal auf den Bezug zu aktuellen Kriegen zu kommen, möchte ich auf die schöne und bemerkenswerte  Gestaltung der Pietà durch Käthe Kollwitz aus den 1930er Jahren hinweisen.

Eine Ausfertigung befindet sich seit 1993 in der Neuen Wache in Berlin, der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Hier findet man mehr zu dieser Skulptur.

Die Pietà heute

Erstmals aufmerksam auf die Ähnlichkeit mit der Leidensdarstellung Christi wurde ich durch die Ankündigung für den Film „Berlin Alexanderplatz“ nach dem Roman von Alfred Döblin (1929), die mich tief berührt hat. Die Ähnlichkeit ist frappierend und absolut passend, obwohl es sich in diesem Zusammenhang um zwei Außenseiter und nicht um Mutter und Sohn handelt.

Pieta_Berlin-Alexanderplatz

Döblin erzählt die Geschichte des einfachen Arbeiters Franz Biberkopf, der sich nach seiner Haftentlassung eine neue Existenz aufbauen will. Der Film von Burhan Qurbani stellt stattdessen den illegalen afrikanischen Immigranten Francis ins Zentrum, der nach der gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer ein neues Leben beginnen möchte.

Veränderung des Kontextes

Dass die Neudeutung der ikonischen Darstellung in dem Film keine singuläre Erscheinung ist, belegt die Dissertation von Christine Keruth (2021), die den Umgang mit der Pietà-Bildformel in zeitgenössischen Kunstwerken untersucht hat. U.a. kommt sie zu folgenden Ergebnissen:

„Ein zunehmendes, seit dem 21. Jahrhundert auftretendes Phänomen besteht darin, dass die gehaltene, getragene oder gestützte Figur nicht mehr unbedingt als Leichnam gezeigt wird, sondern auch lebend, verletzt oder in einem Zustand vor dem Tod (…) Hierbei stehen die sozialen und politischen Beziehungen, bzw. Konflikte der Menschen untereinander im Vordergrund.“ (Keruth 2021: 266f.)

So zeigt es sich auch in dem Film „Berlin Alexanderplatz“. Ebenso variieren die beteiligten Figuren in zeitgenössischen Pietà-Darstellungen:

„Handelte es sich in der bisherigen Kunst- und Bildgeschichte ausschließlich um die Figurendarstellung der Gottesmutter Maria, die ihren gekreuzigten Sohn Jesus Christus betrauert, wird für die Gegenwartskunst ein Austausch, eine Erweiterung oder sogar Auflösung der Zweifigurengruppe (…) festgestellt. An ihre Stelle treten Hauptpersonen unterschiedlichen Alters aus der jeweiligen Bevölkerung und des Zeitgeschehens einer Gesellschaft. (…) Die Künstler_innen der Gegenwart … brechen bewusst die konventionelle Aufteilung der Mutter-Sohn-Beziehung auf. (Keruth 2021: 265)

Pieta mit Puppe Dramaka
I.N.R.I. Photographien von Bettina Rheims und Serge Bramly, Kronprinzenpalais Berlin, 1999/2000

Franz Kafkas „Die Verwandlung“

Eine sehr widersprüchliche Verbindung besteht zwischen Gregor Samsa und seiner Mutter. Der mit seiner Schwester bei seinen Eltern lebende Handelsreisende, der „eines Morgens aus unruhigen Träumen“ erwacht und „sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ sieht (Kafka 2019: 5), versucht, ebenso wie seine Familie, mit diesem Umstand einigermaßen zurecht zu kommen. Die Mutter leidet zweifellos mit ihrem Sohn mit, kann sich aber weder gegen die beiden anderen Familienmitglieder durchsetzen noch ihren eigenen Ekel und Widerwillen ganz unterdrücken. Darüber hinaus wäre ihr eine Haltung wie die Pietà allein schon wegen der enormen Größe des Käfers unmöglich. In unserer Produktion „Hoffentlich ist es nichts Ernstes!“ haben wir diese Beziehung in folgendem Bild festgehalten:

Franz Kafka Die Verwandlung Theater Mäanda
„Hoffentlich ist es nichts Ernstes!“ – Theater Mäanda nach F. Kafkas „Die Verwandlung“ 2000

Schließlich aber wird Gregor an den Folgen eines Angriffs durch seinen Vater alleine in seinem Zimmer sterben. Die Familie inklusive der Mutter macht darauf erst einmal einen Ausflug ins sonnige Freie.

Mega Perls – Eigenproduktion

Ich erinnere mich, dass wir die Pietà schon auch in einer früheren Produktion in Szene gesetzt hatten:

In „Mega Perls – ein mörderischer Waschgang“ durchlaufen die vier Darstellerinnen alle Stadien der Gefühle – eben wie in einem Waschgang – bis hin zu einem Mord im Affekt (Bild). Dem tödlichen Ende folgt das Entsetzen, allerdings auch die strafende Wiederauferstehung.

Pieta Mega Perls Theater Mäanda
„Mega Perls – ein mörderischer Waschgang“, Theater Mäanda, Eigenproduktion 1995

Fazit

Es gibt körperliche Haltungen, die schon allein für sich genommen eine ganze Geschichte erzählen. Dies kann auch eine einzelne „Statue“ sein – darauf beruht ja zum Beispiel auch das Prinzip des Statuentheaters nach Augusto Boal.

Im Zusammenspiel zweier Figuren erwächst aus einer Haltung bereits eine Beziehung zueinander, die meist schon eine Vergangenheit hat und dem Betrachter und der Betrachterin womöglich schon einen Ausblick auf die Zukunft gewährt.

Im Theater geht es permanent um solche Beziehungen, die körpersprachlich zum Ausdruck kommen, so dass es keiner weiteren Worte mehr bedarf.

Ich find’s immer wieder faszinierend.

Literaturhinweise

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