Eine Lebensgeschichte in einem Einkaufszettel

Eine Lebensgeschichte in einem Einkaufszettel

„Hi, ich bin Walt. Ich sammle weggeworfene Einkaufslisten. Das klingt vielleicht ein bisschen schräg, aber Sie ahnen ja nicht, was man auf diese Weise alles über jemanden erfährt!“

Klappentext R. Wangersky „Walt“

Im Jahr 2014 veröffentlichte der kanadische Schriftsteller Russell Wangersky seinen Erstlingsroman „Walt“ (dt. Erscheinungsjahr 2016) über einen etwas verschrobenen Supermarktmitarbeiter um die Fünfzig, der über weggeworfene Einkaufszettel seine Rückschlüsse über das Leben der jeweiligen Kunden zieht.

Dies soll keine weitere Buchkritik sein, die es schon zuhauf über dieses Buch gibt. Dass die Figuren blass bleiben, Walt viel zuviel Irrelevantes für die Geschichte erzählt, insgesamt die Kategorie „Psychothriller“ eine Nummer zu hoch gegriffen ist – dem kann ich mich nur anschließen. Dennoch mag ich diesen lakonischen, etwas melancholischen Stil, bei dem in einem beiläufigen Nebensatz oft ein veritables Lebensdrama mitschwingt.

Und am Interessantesten finde ich Walts Theorien über die unterschiedlichen Einkaufzettel, die er über ihre Verfasserinnen und Verfasser entwickelt.

Manchmal muss man nur eine Einkaufsliste lesen und hat so­fort ein vollständiges Bild vor Augen, nicht nur, was es zu essen gibt, sondern das verflixte große Ganze, die Wachskugel, die ein Leben ausmacht – wer es ist, in was für einem Haus die Leute leben, womit sie ihr Geld ver­dienen, der Kleinwagen, den sie fahren, selbst die abon­nierten Zeitschriften, die in ihrem Briefkasten liegen.

(Walt, S. 37)

Diese Theorien über Einkaufszettel sind im Grunde das Eigentliche, was mich interessiert.

Denn durchaus hatte ich mir zeitweise in den Kopf gesetzt, einen Einkaufszettel zu inszenieren, deshalb auch das Interesse an diesem Buch. Diese Idee reiht sich ein in manche (allerdings realisierte) Vorhaben, die man meiner Meinung nach „mal gemacht haben muss“ – sofern man mit Theater zu tun hat (z.B. ein Brot als Hauptfigur besetzen, ein Stück auf einer Rangierrampe inszenieren o.ä.).

Wangerskys Hauptdarsteller entwickelt recht plausible Gedanken über die in verschiedene Kategorien eingeteilten Zettelschreiber, und das tut er geschickt über die Lebensmittel, die sie einkaufen.

Einkaufszettel Dramaka

Jedes Detail dieser Liste verrät »Seelentröster«. Oder Nach­tisch. Sie hat einen Hauch von »Bitte rette mich«. Manch­mal wird man aber nicht gerettet. Ich sehe solche Listen wesentlich öfter, als man glauben sollte, Einkaufszettel, die sich lesen wie Rettungsringe. Ich meine, bei einigen Menschen kann man Verzweiflung erwarten – bei mü­den, abgekämpften, gestressten Hausfrauen vielleicht. Tatsächlich aber packen sie es alle ein, die Chips und Dips und Cracker und Fertigpizzen. Jeder, der an mei­nem Fenster vorbeigeht, könnte sein eigenes, spezielles Sicherheitsnetz nach Hause tragen, das die Leere nicht anfüllt, keine Lösung bringt.

(Walt, S. 43)

Meist nimmt Walt diese Notizen als Ausgangspunkt für weiterführende Reflexionen über das Leben im Allgemeinen und sein eigenes im Besonderen.

Organisierter Einkaufszettel Dramaka

Organisiert. Man betrachtet eine Liste wie diese und alles daran sagt dir, wie organisiert hier alles ist, bis ins Letzte, dass wir eine Person vor uns haben, die verdammt nochmal alles unter Kontrolle hat (…)

Jemanden, der so lebt, nicht zu beneiden fällt schwer, jemanden, der durch reine Willenskraft und Selbstbeherrschung alles geregelt bekommt. Denn das mit dem festen Willen ist nicht leicht, man schaut sich um und stellt fest, dass der Wille sich verflüchtigt hat. Hin und wieder wünsche ich mir, ich könnte die Jahre zurückdrehen und zurückfinden auf diesen umsichtig arrangierten Weg, den Mary und ich irgendwann verlassen haben.

(Walt, S. 150f.)

Was genau macht uns so durchschaubar?

Sind es tatsächlich die Verbrauchsgüter, die wir alle konsumieren und die – offenbar doch nicht so anonym und beliebig – so viel über uns erzählen?

Oder sind es die eigenen Lebensumstände des Finders, die ihn zu diesen Interpretationen veranlassen? Woher kommen seine Überlegungen, wie die Leute leben – ist es nicht sein ganz individueller Blick auf die Welt?

Ich schaue mir eine Sache an, und im nächsten Moment bringe ich sie mit allen möglichen anderen Dingen in Verbindung.

(Walt, S. 53)

Vermutlich tut das jede und jeder auf seine Weise mit den Dingen, auf die er trifft: er/ sie setzt sie in sein/ ihr eigens System und interpretiert sie anhand eigener Erfahrungen und Kenntnisse. Wo wir wieder beim Konstruktivismus wären.

Die Konsequenz, die sich daraus für die Inszenierung eines Einkaufszettels ergibt, ist folgende:

Es wird aller Voraussicht nach eben nicht „der“ Einkaufszettel sein, sondern meine Sicht auf ihn. Vielleicht ist das auch grundsätzlich die einzig mögliche  Beschreibung für eine Regiearbeit, für ein Kunstwerk.

Ich erinnere an die Inszenierungen von Frank Castorf an der Volksbühne Berlin, die das ganz besonders deutlich machen. Nicht etwa „Hänsel und Gretel“ wurde da gezeigt z.B., sondern Castorfs Sicht von Hänsel und Gretel, welche das Märchen ausgesprochen frei interpretierte.

Dadurch allerdings wirkt so ein Einkaufszettel auf einmal nicht mehr persönlich, sondern wird mehr zum Objekt der individuellen Rezeption.

Zwar habe ich diese Idee nie verwirklicht, bin aber mehr und mehr davon überzeugt, dass man solch einen Einkaufzettel tatsächlich mehr wie ein Gedicht zu inszenieren hat, will man dem Verfasser oder der Verfasserin gewissermaßen noch einen Raum lassen.

Nun, das schmälert aber keineswegs diesen Roman oder aber Castorfs Produktionen, sondern ist letztlich auch eine Erkenntnis aus „Walt“.

Thank you, Mr Wangersky 🙂

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