Theaterregie lernen – mein Kursprojekt

Theaterregie lernen – mein Kursprojekt

Es gibt ganz unterschiedliche Wege, Theaterregie zu lernen.

Viele beginnen als RegieassistentInnen am Theater und bekommen irgendwann selbst die Möglichkeit, Regie zu führen. Andere Wege führen über ein Studium (Schauspiel-, Musiktheaterregie, Szenografie, Geisteswissenschaften) oder aber selbständig über den Off-Bereich.

Mich als Theaterpädagogin hat interessiert, wie solch ein Regiekurs verläuft, und währenddessen konnte ich auch zwei echte Textszenen mit unterschiedlichen Inszenierungskonzepten auf die Bühne bringen. Hier erzähle ich davon.

Der Kurs

Wie schafft man Spannung auf der Bühne? Was bedeutet maximale Fallhöhe? Wie entstehen Handlungen, welche über den Text hinausgehen und den Figuren Plastizität verleihen? Wie vermeidet man das bloße Textaufsagen? Wie vermeidet man das Spielen von Zuständen? Und wie schafft man für die Spielerinnen und Spieler ein Umfeld, in welchem sie Spaß am Spiel haben und ihre eigenen Ideen einbringen können?

Diese und noch viel mehr Fragen tauchten in dem Regieseminar mit Marcelo Diaz im Jahr 2011 in Berlin auf. Sie wurden von den SeminarteilnehmerInnen oder vom Regisseur gestellt. Verdichtung, Widerspruch und Entwicklung, so der Untertitel.

Viele davon wurden praktisch beantwortet, andere in der Theorie. Dies geschah anhand des Stücks „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams.

Grundsätzliche Erkenntnisse

  • Die Definition von Vorgängen ist der Motor für das Handeln auf der Bühne. Vorgänge sollten so formuliert sein, dass die Figur ernst genommen wird.
  • Vorgänge sollen den Spielern möglichst viel Spielraum für Angebote lassen.
  • Widersprüchliche Handlungen geben den Figuren Vielschichtigkeit, je nachdem sind aber auch ergänzende oder illustrierende Handlungen sinnvoll. Eine Faustregel gibt es nicht, ein Stück, in welchem die Figuren jedoch immer illustrierend handeln, ist eher langweilig.
  • Wenn man die Umstände gut definiert, d.h. die Situation so erklärt, dass dem Spieler Spielideen kommen, braucht es die Analyse der Vorgänge nicht zwingend.
  • Anfänge sind entscheidend für den Verlauf einer Szene und müssen sorgfältig analysiert werden. Anfangsaktionen geben dem Spieler eine gute Startbasis.
  • Wenn eine Szene nicht funktioniert ist es besser, das Stück noch einmal zu lesen und die Umstände zu analysieren als die Einzelszene zu sezieren.

Terminologie

Umstand

Ein Umstand beschreibt die Gesamtsituation der Figur. Mit den Spielern die Umstände zu klären, heißt ganz viele Hintergrundinformationen zu geben, welche für das schlussendliche Handeln die Grundlage bilden. Die Umstände werden klar durch das genaue Lesen des Stücks/der Szene und erklären, was die Figur generell beschäftigt, wo ihre Handlungsmotivationen und Probleme liegen. Umstände können in Parallelbildern erklärt werden

Vorgang

Der Vorgang bildet den Hauptantrieb der Figur, sozusagen ihren Motor oder das Ziel ihrer Handlungen. Er muss in wenigen Worten (Verben) formulierbar sein, und hat die Funktion, Regie und Spielern Handlungsmöglichkeiten über den Text hinaus zu liefern, welche das Spiel spannend machen.

Jede Figur hat ihre eigenen Vorgänge, deswegen sollen sie immer aus der Sicht der Figur definiert werden und positiv, um die Figur ernst zu nehmen.
Vorgänge bleiben über längere Textabschnitte gleich, können jedoch an Wendepunkten innerhalb der Szene wechseln.

Aktion

Eine Aktion ist eine konkrete Handlung (Verb, z.B. drohen) auf der Bühne und kann in unterschiedlichen Haltungen (Adjektiv, z.B. sanft) ausgeführt werden, welche die Handlung färben.

Die Aktion kann unterstützend, ergänzend oder widersprüchlich zum Text sein. Sie steht am Schluss der Überlegungen und ergibt sich aus Umstand und Vorgang. Gute Spieler können von sich aus aus der Schilderung von Umständen und Vorgängen Aktionen finden, ungeübtere Spieler sind da mehr auf eine Idee der Regie angewiesen. Besonders am Anfang kann eine gute Aktion helfen, um ins Spiel zu kommen.

Aktionen sind immer zielgerichtet (meinen, was man sagt und tut) und sollten die Mitspieler verändern so dass sie wieder Spielimpulse erhalten.

Einige Gedanken zur Figur

Es gibt einige Genres, bei welchen die Arbeit an der Figur am Anfang steht, wie etwa Commedia dell´ arte oder Boulevardtheater. Im naturalistischen Theater jedoch stehen die Handlungen am Beginn und machen die Figur durch das Handeln zu dem, was sie ist.

Die meisten Figuren haben innere Konflikte, die sie aber auch zu Handlungen veranlassen, sonst kann der Zuschauer fühlende, leidende Figuren nicht verstehen.

Eine Figur besteht immer aus drei Grundelementen, welche sich teilweise parallel, teilweise nacheinander entwickeln: Physiognomie, Temperament, Charakter der Privatperson, also alles, was ein Spieler mitbringt / Aktionen der Figur / Charakterisierung der Figur.

Vorarbeit zu einer Szene

  1. Analyse der Umstände
  2. Umstände erklären, ggf. mit Parallelbildern aus der Lebenswelt des Spielers
  3. Vorgang definieren, wörtlich (z.B. beweist Liebe) oder als Suggestion (z.B. Was tut jemand, der…)
  4. Falls Vorgänge nicht genügend Assoziationen beim Spieler hervorrufen, Anfangsaktionen definieren, ggf. bereits in einer Haltung
  5. Szene funktioniert nicht – Woran kann es liegen?
  • Die Umstände sind nicht dringlich genug, die Dringlichkeit muss erhöht werden, Spiel abbrechen und Umstände dringlicher schildern.
  • Spieler weiß schon, was er tun muss, wie er reagieren soll, wo was passiert und ist nicht mehr prozessorientiert. Auch bei Nacherzählungen müssen Bilder entstehen, Spieler müssen immer im Moment präsent sein.
  • Szene hat keinen Prozess, verändert sich nicht, Bewegung der Szene (etwa unterschiedlicher sich verändernder Status) muss analysiert werden.
  • Spieler können sich nicht gegenseitig verändern, Impulse werden nicht aufgenommen.

Die Entstehung eines Regiekonzepts

Grundsätzlich stellt sich die bei jedem Stück die Frage:

-> Was ist meine Kernaussage? Was will ich erzählen?

Diese Aussage muss in einen Satz (mit höchstens drei Nebensätzen) passen und im ganzen Stück sichtbar sein.

Um das Stück schnell zu lesen, jede Szene in wenigen kurzen Sätzen zusammenfassen. Das liefert das Skelett des Stücks und dessen Struktur. Anhand dieser Zusammenfassung können auch weitere Überlegungen angestellt werden, etwa die Präsenz einer Figur.

Bei der Entstehung eines Regiekonzepts sind folgende Fragen und Arbeiten nützlich. Sie sollen der Regie helfen, die wichtigsten Aussagen des Stücks für sich zu finden und daraus neben der Inszenierung auch Ideen für Bühnenbild, Licht, Ton etc. zu bekommen.

  1. Wie entwickeln sich die Räume? Welche Bewegung ist sichtbar?
  2. Welche drei Requisiten braucht dieses Stück?
  3. Welche Beziehungen bleiben über das Stück hinweg erhalten und wie entwickeln sie sich?
  4. Wozu handelt die Hauptfigur? (Die Figur ist auf der Suche nach…)
  5. Welche drei/vier Sätze sind mir nach der ersten Lektüre des Stücks geblieben? (zeigt eigene Schwerpunkte auf)

Das hier Beschriebene garantiert keinen Wurf. Es bildet jedoch die Grundlage für eine Inszenierung und hilft, sich nicht in Details zu verlieren. Dieses Risiko besteht, weil ein Regisseur grundsätzlich ständig auf Empfangsbereitschaft sein sollte, um all die Impulse aufzunehmen, welche ihm die Spieler und seine Umgebung liefern.

Jetzt geht es ans Ausprobieren in der Praxis.

Notizen zur eigenen Inszenierung

Das zu bearbeitende Stück war „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams.

Williams beschreibt die Bühne, ebenso wie die Handlungen, in den Regieanweisungen ausgesprochen ausführlich. Daraus ergab sich für mich das Bühnenbild, das mir die Orientierung beim Lesen im Folgenden erleichterte.

Dann kommt die Inhaltsangabe nach Akten und Szenen, für die wir jeweils eine Überschrift finden sollten.

  • Gelb = Akt
  • Grün = Szene
  • Rosa = Überschrift Akt/ Szene

Die dritte Seite zeigt die Beziehungen, die ich so herausgearbeitet habe, und die „Hauptsätze“ aus dem Stück – meiner Ansicht nach.

Regie Notizen Dramaka

Notizen als pdf.

Für die eigenen Inszenierungsbeispiele einigten wir uns auf folgende Szenen:

1. Akt 1. Szene (Auszug)

In einem heruntergekommenen Hinterhof im French Quarter von New Orleans liegt das Haus, in dem Stella und Stanley Kowalski eine kleine, schäbige Wohnung haben. Aus den umliegenden Kneipen dringt permanent Jazzmusik.

Es nähert sich Stanley, der ein in blutiges Zeitungspapier gerolltes Stück Fleisch trägt, welches er Stella im Vorbeigehen entgegenwirft. Dann setzt er seinen Weg fort, um mit seinem Kumpel Mitch zum Kegeln zu gehen. Stella eilt den beiden Männern nach.

Auf der Treppe trifft sie auf Eunice, der das Haus gehört und die mit ihrem Mann die obere Wohnung bewohnt, sowie der Nachbarin, die "Negerfrau".

Auftritt Blanche Du Bois: Stellas etwa fünf Jahre ältere Schwester wirkt in ihrem hübschen Kleid und ihrem zerbrechlichen, nachtfalterartigen Äußeren fehl am Platz. Sie hat einen Koffer dabei und scheint etwas zu suchen.

Eunice spricht sie an. Irritiert erklärt Blanche, dass sie die „Elysischen Gefilde“ Nr. 632 suche, das Haus, in dem ihre Schwester wohnt.

Als Eunice ihr erklärt, dass sie an der richtigen Adresse sei, ist Blanche schockiert angesichts des heruntergekommenen Hauses.

Quelle

Die Jazzmusik ist immer noch zu hören. Im Vorübergehen nickt Stella den beiden auf der Treppe sitzenden Frauen zu.

Stella Guten Abend, Eunice, wie geht's? Sie geht ab.

Eunice Oh, ganz gut. Sie ruft Stella nach. Sagen Sie Steve, er soll sich dort ein Sandwich kaufen, zu Hause wird er nichts finden, absolut gar nichts.

Eunice und die „Negerfrau“ lachen.

„Negerfrau“    Was war in dem Paket, das er ihr an den Kopf geschmissen hat? Sie lacht.

Eunice amüsiert Du sei ganz still!

„Negerfrau“ nachahmend, wie Stanley das Fleisch schleuderte Fang auf! Sonst fängt sie was!

Beide Frauen lachen.

Blanche Du Bois erscheint links rückwärts und geht die Straße entlang, mit der einen Hand einen kleinen Koffer tragend, in der anderen einen Zettel haltend. Sie schaut suchend umher, ihr Gesicht drückt schockierte Ungläubigkeit aus.

Eunice zu Blanche Was suchen Sie, liebes Kind? Haben Sie sich verlaufen?

Blanche zur Treppe hinauf sprechend Man hat mir gesagt, ich soll eine Straßenbahn namens »Sehnsucht« nehmen, dann in eine andere, namens »Friedhof«, umsteigen und nach sechs Querstraßen aussteigen - bei den »Elysischen Gefilden«! Sie sagt das mit einem leicht hysterischen Humor.

Eunice  Und genau da sind Sie jetzt!

Blanche  Auf den Elysischen Gefilden?

Eunice    Das hier sind sie - die Elysischen Gefilde. Die „Negerfrau“ lacht, Blanche geht unschlüssig zur Wohnungstür vor.

Blanche Die müssen nicht verstanden haben, welche Hausnummer ich suche ...

Eunice Welche Nummer suchen Sie denn?

Blanche müde den Zettel in ihrer Hand vorweisend Sechshundertzweiunddreißig.

Eunice auf die Nummer 632 neben der Wohnungstür zeigend Da brauchen Sie nicht weiter zu suchen! Die „Negerin“ lacht.

Blanche nicht verstehend Ich suche meine Schwester, Stella Du Bois. Ich meine Frau Kowalski.

Eunice Stimmt. Sie haben sie gerade verfehlt. Sie steht auf, streckt sich und kommt näher.

Blanche Oh! Sie ist - ausgegangen?

Eunice hinausdeutend Haben Sie nicht dort um die Ecke eine Kegelbahn bemerkt?

Blanche  Ich glaube nicht -

Eunice   Dort ist Ihre Schwester nämlich jetzt und schaut ihrem Mann beim Kegeln zu.

Die "Negerin" lacht.

Quelle: Williams, Tennessee, Endstation Sehnsucht, Deutsch von Berthold Viertel, Ffm. 432010

In dieser Szene erschien mir der Gegensatz von Stellas Umgebung und einer unbekannten, nicht dazugehörenden Fremden ausschlaggebend. Es treffen verschiedene Welten aufeinander, wobei die Einheimischen ganz klar im Vorteil sind und das auch rücksichtslos ausspielen.

Ich hatte drei Teilnehmerinnen, die in meiner Regie diese Szene spielen wollten (Rollen: zwei Jugendliche und Blanche). Diese Szene konnte ganz über Improvisation entstehen, deshalb spielte der Original-Text kaum eine Rolle.

Statt des französischen Viertels in New Orleans befinden wir uns hier in einem sozial schwachen Randbezirk einer Großstadt. Eunice und die „Negerfrau“ sind zwei Jugendliche, die sich in ihrem eigenen Revier befinden, Sonnenblumenkerne (statt Erdnüssen) essend, sie „chitten“ (vom türkischen „çitlemek“, knacken).

Zu dieser Situation sollten die beiden „Jugendlichen“ erst einmal frei improvisieren. Es ging darum, den Raum zu besetzen, zu erobern, sich stark im eigenen Territorium zu fühlen. Was macht man so, wenn man Zeit hat und Langeweile, mit dem Raum, untereinander, wie spielt, neckt, streitet, schlägt und verträgt man sich? Das ging so lang, bis sich die beiden Spielerinnen auf der Bühne schon recht zuhause fühlen konnten.

Jugendbande als Regievorlage

Nun tritt Blanche auf, sie ist anders, sie kennt sich nicht aus, sucht etwas, schaut auf einem Zettel nach - ein gefundenes Fressen für gelangweilte Teenager.

Auch diesen Abschnitt erarbeiteten wir nur durch Improvisation. Die beiden Jugendlichen spielen mit der verunsicherten Frau, kreisen sie ein, provozieren sie – sie machen also deutlich, wer hier das Sagen hat. Dies darf eine ganze Weile so gehen.

Ab „Ich suche meine Schwester, Stella DuBois. Ich meine Frau Kowalski.“ ändert sich das Geschehen (Drehpunkt), und die Jugendlichen zeigen sich langsam kooperativer, weil die Besucherin Verbindung zu einer Einheimischen hat.

3. Akt 4. Szene (Auszug)

Nachdem Stanleys Freund Mitch sie verschmäht hat, beginnt Blanche hemmungslos zu trinken, zieht sich ein verlottertes Kleid an und träumt sich auf eine Abendveranstaltung in Belle Reve.

Irgendwann kommt Stanley nach Hause: Stella liege im Krankenhaus und erwarte in dieser Nacht ihr Baby.

Blanche findet den Gedanken unerträglich, mit Stanley allein zu sein. Sie fantasiert ihm etwas von einem Telegramm vor, das ihr ein früherer Verehrer geschickt habe. Stanley sagt ihr auf den Kopf zu, dass sie erneut in Träume und Fantasien flüchte.

Er provoziert sie, bis Blanche einer Flasche den Kopf abschlägt und ihn damit bedroht. Er fackelt nicht lange, verdreht ihr den Arm und trägt sie aufs Bett.

Quelle

(Die Zahlen beziehen sich auf das Inszenierungskonzept (s.u.))

Blanche, ein Glas in der Hand, die Flasche mit Likör auf dem Toilettentisch. Sie hat ein Abendkleid aus weißem Satin an, das nicht sehr rein und ziemlich zerdrückt aussieht, und abgetragene Hausschuhe. Sie ist in gehobener Stimmung, in einer Art von hysterischer Heiterkeit; sie glaubt sich zurückversetzt nach Belle Reve; in ihrer Einbildung sieht sie sich auf dem Höhepunkt einer dort stattfindenden Gesellschaft, umgeben von alten Freunden, deren Applaus und schmeichelhafte Bemerkungen sie zu vernehmen glaubt.

Blanche Ach, da spielen sie »Good Night Ladies«! Darf ich meinen Kopf an Ihre Schulter lehnen? Das ist so beruhigend, so tröstlich!... Wie wäre es, wenn wir hinuntergingen an den See, um ein Bad zu nehmen im Mondlicht und um die Felsen herumzuschwimmen? Das ist das beste Mittel, um das Summen im Kopf zum Schweigen zu bringen!

Stanley Von draußen. Er bringt einen Papiersack mit sich, darin eine Bierflasche und Brezeln. Warum haben Sie sich denn so fein herausgemacht?

Blanche Ja, richtig! Sie sind fortgegangen, bevor mein Telegramm kam. 1

Stanley Sie haben ein Telegramm bekommen?

Blanche Ein Telegramm von einem alten Verehrer. 2

Stanley Eine gute Nachricht?

Blanche Allerdings, eine Einladung! 3

Stanley Zu was?

Blanche Zu einer Vergnügungsfahrt mit einer Yacht auf der Karibischen See. 4

Stanley Ei sieh da! Was Sie sagen!

Blanche Ich war noch nie in meinem Leben so überrascht. 5

Stanley Kann ich mir denken!

Blanche Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel! 6

Stanley Von wem, sagen Sie, ist das Telegramm? 1

Blanche Von einem alten Verehrer. 7

Stanley ergreift die Flasche und kommt ihr einen halben Schritt näher Der, von dem Sie den weißen Fuchs haben? 2

Blanche Herr Shelp Huntleigh. Erst vorige Weihnachten habe ich ihn wieder getroffen, ganz zufällig, auf einem Boulevard in Miami! Und jetzt diese Einladung. Jedenfalls wird es eine Angelegenheit größten Stils sein. 8

Stanley Daraus können Sie sehen, dass man nie weiß, was kommt. 3

Blanche Ja! Gerade in dem Augenblick, als ich dachte, dass mein Glück mich verlassen hat! 9

Stanley Und ins Bild kommt, hastdunichtgesehen, dieser Millionär aus Miami! 4

Blanche Der Mann ist nicht aus Miami. Der Mann ist aus Dallas! 10

Stanley Na ja, wenigstens ist er von irgendwo! 5

Er geht an ihr vorbei zum Eisschrank. Sie weicht in das Schlafzimmer zurück, indem sie ihren zerrissenen Schleier um sich drapiert und seitwärts Blicke in den Spiegel wirft.

Stanley Haben Sie vielleicht einen Flaschenöffner gesehen?

Er schaut im Kasten nach, dann im Schrank. Stanley öffnet die Bierflasche, Schaum kommt heraus, er lacht glücklich, indem er die Flasche hochhält und die Kaskade über sich, seine Arme und seinen Körper ergießen lässt.

Stanley Himmelssegen! Er trinkt! Was meinst du, Blanche? Ich denke, wir haben beide das Recht zu feiern heute nacht, es ist ein festlicher Anlass für uns beide! Er kommt ins Wohnzimmer, sie weicht zurück, um ihn zu vermeiden. Sie haben einen Petroleummillionär, und ich habe ein Baby! Er geht zum Tisch hin.

Blanche hat sich zum Bett zurückgezogen.

Stanley beißt in eine Brezel.

Blanche Ihr Freund, Herr Mitchell! Er hat mir heute nacht einen Besuch abgestattet! Sie kommt näher. Er hat es gewagt, in seinem Arbeitsanzug zu kommen! Und Verleumdungen zu wiederholen, bösartigen Klatsch, den er von Ihnen hat! Aber ich hab ihm heimgeleuchtet! 1

Stanley Haben Sie? So!

Blanche Aber dann kam er wieder, er brachte mir einen großen Karton voll Rosen und bat mich um Verzeihung! Angefleht hat er mich, ich soll ihm verzeihen! Aber es gibt Dinge, die unverzeihlich sind. Und das habe ich ihm auch gesagt! Ich habe zu ihm gesagt: Ich danke Ihnen, aber es war töricht von mir anzunehmen, dass wir je zueinander passen könnten. Wir sind von zu verschiedener Herkunft. 2

Stanley lehnt gegen einen Stuhl.

Blanche Unsere Anschauungen sind zu verschieden, unser Herkommen ist verschieden, eine verschiedene Kinderstube, ein verschiedener Hintergrund! Ein verschiedenes Niveau! Es gibt eben Unvereinbarkeiten, man muss die Dinge sehen, wie sie sind! Realistisch! Und so, lebe wohl, mein Freund! Wir brauchen einander deshalb nicht böse zu sein... 3

Stanley War das, bevor das Telegramm aus Texas kam - oder nachher? 1

Blanche im Wohnzimmer herumwandernd, bleibt abrupt stehen Welches Telegramm? Sie dreht sich halb zu Stanley und geht dann weiter. Nein! Nein, nachher! Tatsächlich kam das Telegramm, gerade als...4

Stanley unterbrechend, ihr nachgehend Tatsächlich ist überhaupt kein Telegramm gekommen! 2

Blanche auf einen Stuhl sinkend Oh, oh! 4

Stanley zu ihr hin Es gibt keinen Millionär, und Mitch ist nicht mit Rosen hergekommen, ich weiß nämlich, wo er ist! 3

Blanche Oh!

Stanley Alles das existiert nur in Ihrer Einbildung! Lauter Lügen! Eitelkeit, Tricks! Lauter Posen und Possen! Er packt die Schleppe ihres Abendkleides. Schauen Sie sich doch nur an! Er wirft die Schleppe nach ihr. Schauen Sie sich an in diesem abgetragenen Aschermittwoch-Kostüm, das Sie sich für fünfzig Pfennig bei einem Lumpensammler ausgeliehen haben! Er schnalzt mit den Fingern. Sie mit dieser lächerlichen Krone auf Ihrem Kopf! Er fegt ihr die Tiara vom Kopf und schleudert sie weg. Was glauben Sie denn, was Sie für eine Königin sind?! 4

Blanche flüchtet auf die rechte Seite des Tisches Oh, Gott...!

Stanley sie um den Tisch herum verfolgend Ich bin dir gleich drauf gekommen, am ersten Tag! Blanche kauert hinter dem Tisch. Stanley auf der anderen Seite des Tisches, aufgestützt, glotzt sie an. Mir hast du nichts vorgemacht, aber gar nichts!

Blanche läuft ins Schlafzimmer.

Stanley in der Türöffnung. Sitzt auf einem Thron und säuft meinen Whisky aus! Da kann ich nur sagen: Ha! Ha! Er packt sie. Hörst du mich? Ha – ha – ha -!

Quelle: Williams, Tennessee, Endstation Sehnsucht, Deutsch von Berthold Viertel, Ffm. 432010

Diese Szene lebt meiner Meinung nach von den umschlagenden Stimmungen der beiden Figuren: der Mischung von Abneigung und Faszination, die Blanche gegenüber Stanley empfindet, und der anfänglichen Gelassenheit Stanleys, die zum Schluss in Ärger und Gewalt mündet.

Hier zeigt sich ein permanentes Annähern und Zurückweichen der Figuren, ein Wechsel zwischen Konfrontation und Rückzug auf beiden Seiten.

Dabei erscheint mir die Szene aus zwei Teilen zu bestehen: im ersten Teil versucht Blanche, die Szene zu beherrschen, und nähert sich Stanley, welcher selbst sogar eine gewisse Annäherung wagt (die schließlich von Blanche abgeschmettert wird).

Im zweiten Teil geht Blanche nochmals auf Konfrontationskurs, bis sich ihr der wütende Stanley entgegenstellt. Den Kampf zweier starker Persönlichkeiten entscheidet schließlich Stanley für sich auf die einzige Weise, derer er mächtig ist.

Diese ganze Handlung hat den Charakter eines Tangos. Auch der Tango lebt von Annäherung und Rückzug, ist ein permanentes Spiel von Anziehung und Abstoßung.

Paar beim Tango

Aus diesem Grund habe ich die Begegnung der beiden Figuren als Tango angelegt, wobei auch der Text jeweils eine bestimmte Intention ausdrückt (nach vorn/ zurück).

Ich hatte eine Spielerin und einen Spieler, mit denen ich den Text unter diesem Gesichtspunkt durchgegangen bin. Die Skizze zeigt einen fast mathematischen Verlauf, der schließlich in dem Kampf endet.

Erläuterung:

  • 1 - 10 = Schritte. Mit jedem Satz einen Schritt in die angegebene Richtung.
  • Rote Zahl = Stanley setzt ein (Bewegung).
  • Kreispfeile = Figuren für sich.

Skizze Regie Endstation Dramaka

Skizze als pdf.

Diese Szene konnten wir allerdings nur anlegen, und die Spieler mühten sich redlich mit dem Text in der Hand, die richtigen Schritte zu setzen. In dieser kurzen Zeit war es einfach nicht möglich, aus dieser Vorlage einen flüssigen, stimmigen Fluss in die Handlung zu bringen, ebensowenig, diese Handlungen mit Ausdruck zu füllen. Dennoch aber bekam man schon einen guten Eindruck davon, in welcher Weise Blanche und Stanley ihren Tango in dieser Szene vollführen.

Also letztlich "funktionierte" die Szene.

Inszenierungsanalyse

Selbstverständlich lässt sich aus solch kleinen Szenen keine Inszenierungsanalyse erstellen. Aber ich hänge hier einmal ein paar Fragen an, die ganz interessant sind, wenn man mal eine Vorstellung besucht oder die eigene Regiearbeit unter die Lupe nehmen will.

Auf die einzelnen Punkte gehe ich hier nicht näher ein – lasst es einfach auf euch wirken… Erläuterungen folgen vielleicht später mal.

Fragenkatalog zur Inszenierungsanalyse nach Patrice Pavis

(aus: Pavis, Patrice, Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen 1988, S. 101f.)

1. „Globaler Diskurs“ der Inszenierung

  • Was hält die einzelnen Elemente der Inszenierung übergreifend zusammen?
  • Kohärenz oder Inkohärenz (der Textinterpretation, der Inszenierung)?
  • Was stört an dieser Inszenierung (schwache, starke, langweilige Momente der Aufführung)?

2. Bühnenbild

  • Gestaltung des (städtischen, architektonischen, gestischen) Raumes
  • Verhältnis von Zuschauerraum/Spielraum
  • System der Farben, ihre Konnotationen
  • Raumstrukturierung: szenisch/außerszenisch, benutzter Raum/Fiktion, Zeigen/Verbergen

3. System der Beleuchtung (Typus, Verhältnis zur Fiktion, zu Körpern, Wirkung)

4. Gegenstände (Art, Funktion, ihr Verhältnis zum Raum und zum Körper)

5. Kostüme (ihr System, ihr Verhältnis zum Körper)

6. Spielweise

  • Beschreibung der Darstellenden (Gestik, Mimik, Schminke) – Änderung ihres Aussehens
  • individualisierte oder typisierende Spielweise
  • Beziehung zwischen Einzelakteur und Gruppe
  • Verhältnis Text / Körper / Akteur_innen / Rolle
  • Stimme: Möglichkeit, Wirkung, Verhältnis zum Gesang

7. Funktion der Musik, der Geräusche, des Schweigens

8. Rhythmus der Aufführung

  • Rhythmus einzelner Elemente (Dialog, Beleuchtung, Kostüm, Gestik usw.), Verhältnis von wirklicher und wahrgenommener Dauer
  • Gesamtrhythmus der Aufführung: regelmäßig oder diskontinuierlich, Tempowechsel)

9. Auslegung der Fabel durch die Inszenierung

  • welche dramaturgische(n) Option(en), welche Hypothesen
  • welche Mehrdeutigkeit in der Fabel, welche Verdeutlichungen durch die Inszenierung
  • wie wird die Fabel durch Akteur_innen und die Bühne aufgebaut

10. Der Text in der Inszenierung

  • welche Textfassung, Kürzungen, Ergänzungen, andere Veränderungen
  • Besonderheiten in der Übersetzung (gegebenenfalls)
  • Welche Rolle misst die Inszenierung dem dramatischen Text bei?

11. Das Publikum

  • innerhalb welcher Theaterinstitution und welches kulturpolitischen Kontextes erfolgt die Inszenierung
  • welche Erwartungen hatten Sie an diese Aufführung?
  • wie hat das Publikum reagiert

12. Wie kann man diese Aufführung notieren (photographieren, filmen)? Was haben Sie im Gedächtnis behalten?

13. Was ist nicht auf Zeichen reduzierbar?

  • was hat in Ihrer Lektüre der Inszenierung keine Bedeutung bekommen?
  • was ist auf Zeichen und Sinn nicht reduzierbar (und warum), was entgeht der Notation

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert