Namibia: Geschichte und Gegenwart

Namibia: Geschichte und Gegenwart

Deutschland hatte um 1900 viele Kolonien, darunter Teile von China, Inseln im Süd- und Westpazifik und mehrere Länder in Afrika, auch Namibia im Südwesten des Kontinents.

Mein Interesse an der deutschen (und europäischen) Kolonisierungsgeschichte begann mit der Diskussion um die Benin-Bronzen.

Und mit dem Gefühl von Ungerechtigkeit und Mangel an Aufarbeitung aus dieser Zeit.

Ich begann über die deutsche Kolonialgeschichte zu recherchieren, über die ehemaligen deutschen Kolonien und ihre geschichtliche und ökonomische Entwicklung nach deren Unabhängigkeit.

Nun habe ich mich selbst zwei Wochen in Namibia aufgehalten. Es war meine Anteilnahme an dieser durch die Kolonisierung so fatal mit Deutschland verbundenen Geschichte dieses Landes, die mich dorthin geführt hat.

Deshalb möchte ich hier von der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia erzählen, aber auch von der Zeit danach ab 1918, denn diese zweite Kolonialisierung durch Britisch-Südafrika prägte die Nation weiter entscheidend bis zu ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1990. Und bis heute.

Und trotzdem sind die Menschen dort so aufgeschlossen und freundlich, als hätte es diese Zeiten nicht gegeben. Kaum zu glauben – und bemerkenswert.

Zur Illustration orientiere ich mich neben eigenen Aufnahmen auch an dem wunderbaren und in viele Sprachen übersetzten Buch von Gerald Cubitt und Peter Joyce mit dem Titel „Dies ist Namibia“ (Erstausgabe Kapstadt 1992), hier abgekürzt DIN und die Seitenzahl.

Die deutsche Kolonisierung in Namibia

Mit Deutschland verbindet Namibia nur eine vergleichsweise kurze, dafür aber bis in die Gegenwart wirksame Zeit, in der die deutsche Kolonialmacht unter Bismarck als „Schutztruppe“ in dem Land auftrat, welches sie in betrügerischer Form den dort ansässigen Hereros abgekauft hatten (Lüderitz-Meilenschwindel).

Die Hafenstadt Lüderitz (DIN71).
Die Hafenstadt Lüderitz (DIN71).

Ich bin so überrascht, dass trotz dieses kolossalen Betrugs der Ort noch immer nach dem Mann benannt ist, der ein Terrain für sich beansprucht hat, das ihm niemals zugestanden hat. Ich kann mir das nur so erklären, dass es den unbedingten Willen in Namibia gibt, nach vorne zu schauen, und einen Zustand des Friedens herzustellen.

Aber fangen wir viel früher an:

Portugiesen und Missionare

Im 15. Jht. landeten Portugiesen in Namibia an, die verschwanden aber auch gleich wieder. Zwischen Nama und Herero gab es bereits im 18. Jht. Kämpfe um  fruchtbare Gebiete in Zentral-Namibia. Anfang des 19. Jht. kamen die ersten deutschen Missionare, die das „Wort Gottes“ in die Welt bringen wollten, es folgten Händler.

Landkauf unter betrügerischen Vorzeichen

1883 kauft der Bremer Adolf Lüderitz von dem Nama-„Kaptein“ (schon die Einflüsse der Missionare) Josef Frederiks Land. Während Frederiks von englischen 1,6 Kilometern als 1 englische Meile ausging, betrogen ihn die Deutschen, indem sie bewusst „deutsche geografische Meilen“ (7,4 Kilometer) ansetzten.

Ab 1897 erschweren Naturereignisse das Leben in „Deutsch-Südwestafrika“: Eine Rinderpest bedroht die Lebensgrundlage der Vieh züchtenden Herero. Hinzu kommen eine Malaria-Epidemie, Heuschreckenplagen sowie eine Dürre. Spannungen mit den deutschen Kolonialherren sind die Folge, die durch Übergriffe, Ausbeutung und Landnutzungskonflikte verstärkt werden.

Aufstand der Herero und Nama 1904

Der Herero-Aufstand begann folgerichtig im Januar 1904, nachdem deutsche Siedler immer größere Teile des Landes aufkauften und die angestammte Bevölkerung vertrieben. Ein weiterer Grund, der zu dem Aufstand führte, waren Menschenrechtsverletzungen seitens der deutschen Kolonialherren, etwa durch Misshandlungen durch Peitschenhiebe, aber auch die von der Kolonialverwaltung eingeführte „Rassentrennung“.

Am 4./5. August 1904 kommt es zur verhängnisvollen Schlacht am Waterberg, in der die Herero zwar geschlagen werden, doch in die wasserlose Omaheke-Wüste fliehen können. Die meisten jedoch müssen dort verdursten. Dies gilt als der erste Genozid im 20. Jahrhundert – durch die Deutschen.

Drei Original-Texte (Berichte, Tagebücher, der „Vernichtungsbefehl“ des deutschen Schutztruppenchefs Lothar von Trotha ) aus dieser Zeit finden sich auch hier.

Am Ende des Krieges im März 1907 wird die Zahl der Opfer 50.000 bis 80.000 Menschen geschätzt, darunter 80% des gesamten Hererostammes, aber insgesamt nur etwa 1700 Weiße. Letzteren wurden Denkmäler gesetzt, von denen einige noch immer „Nationale Denkmäler“ sind – nicht ganz verständlich.

Die letzten Jahre der Kolonie

Die Geisterstadt Kolmanskop, früher eine Bergabausiedlung zum Diamantabbau. (DIN63)
Die Geisterstadt Kolmanskop, früher eine Bergabausiedlung zum Diamantabbau. (DIN63)

Als im April 1908 die ersten Diamanten gefunden werden, beginnt ein wirtschaftlicher Aufschwung. Um den Fundort herum entsteht die Siedlung Kolmanskuppe inklusive Kegelbahn, Kraftwerk und Krankenhaus mit dem ersten Röntgenapparat des südlichen Afrika. Heute ist der Ort eine Geisterstadt und Touristenattraktion.

Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im April 1914 leben etwa 14.000 europäische Siedler in Deutsch-Südwestafrika, davon 12.500 Deutsche.

Deutsche Kolonialarchitektur in Windhoek. (DIN30)
Deutsche Kolonialarchitektur in Windhoek. (DIN30)

Eine kurzgefasste Dokumentation über Namibia und seine koloniale Vergangenheit gibt es auch auf Arte TV.

Uwe Timm – Morenga: Buch und Film

1978 hat hat der Münchner Schriftsteller Uwe Timm einen Roman über die Kolonialzeit verfasst, in dem er historische Aufzeichnungen mit der Geschichte eines auswanderungswilligen deutschen Veterinärs verknüpft. „Morenga“ erzählt über den gleichnamigen Widerstandskämpfer, dem es gelang, die Moral der Truppen nachhaltig zu destabilisieren.

Ich war mir nicht sicher, ob ich das Buch überhaupt lesen könnte, weil die Kriegsberichte mit Angriffsplänen in Form von „Überrennen“, „Zerschmettern“ und „Verlusten“ in mir Ekel, Abwehr und Unbehagen erzeugten. Es gibt aber genügend Passagen mit Gesprächen, Tagebucheinträgen oder Anordnungen, die die Geschichte des Tierarztes und der Truppe, der er angehört, weiterbringen.

Zudem habe ich mir den Film „Morenga“ besorgt (1985)

Der ist allerdings auch schwer zu sehen, v.a. was die Schnitttechnik betrifft… Meditative Filmsequenzen wechseln sich ab mit schnellen Brüchen in Zeit und Raum… Es handelt sich um eine Verfilmung des Romans mit szenenartigen, teils sprunghaften Ausschnitten unterschiedlicher Länge.

Beiden gemein ist, dass die Figur „Morenga“, obwohl durchaus existent, ein sagenumwobenes Phantom bleibt. Dies schreibt auch Günther Mack in einem Zeit-Beitrag von 1985.

Reaktionen

Die Aufzeichnungen des fiktiven Oberveterinärs Gottschalk beginnen erst nach dem Völkermord an den Herero im August 1904. Obwohl sich die Kritik an der Kolonialherrschaft im Buch nur leicht in Auflösung von Disziplin und Moral, Alkoholeskapaden, Zynismus und Erschöpfung äußert, reagierten sowohl die rund 25.000 Deutschstämmigen als auch die (damals noch herrschende) südafrikanische Regierung auf das Buch und später den Film ausgesprochen aufgebracht:

„Als Uwe Timms Roman erschien, wurde der Münchner Schriftsteller von der südafrikanischen Regierung zur »persona non grata« erklärt. »Schund« und »Schmarren«, hieß es am Stammtisch der »Kaiserkrone« und in der »Allgemeinen Zeitung« von Windhuk.(…) Morenga, das war ein »Hottentotten-Bastard«, mit dem die deutsche »Schutztruppe« so einfach nicht fertig wurde, ein Guerilla-Führer, ein schwarzer Che am Anfang des Jahrhunderts. Zuletzt mußten 16 000 Kaiserliche ins Feld geführt werden, um Morengas 400 Männer niederzuschlagen.“ (Der Spiegel 11/1985).

„Heia Safari“

In dem Zusammenhang ist der Film „Heia Safari“ aus dem Jahr 1966 interessant. Denn Ralph Giordanos sehr kritische Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte entfachte trotz der eher geringen Bedeutung der Kolonien ebenfalls eine scharfe öffentliche Kontroverse, vor allem in Deutschland selbst.

Ein halbes Jahrhundert nach Ende des deutschen Kolonialreichs herrschte dort eine nostalgische, beschönigende Sichtweise auf diese Zeit vor.

Dem entgegen wollte Giordano die „Legende von der deutschen Kolonialidylle in Afrika“ radikal entlarven. Z.B. weist der Film auf die Pseudolegalität der vom Reich in den 1880er Jahren geschlossenen Schutzverträge mit den afrikanischen Herrschern hin, die keine Völkerrechtssubjekte gewesen seien und daher gar nicht das Recht besessen hätten, ihre Gebiete dem Reich zu unterstellen. Außerdem nennt die Sendung von 1966 den Hererokrieg den ersten Völkermord in der Geschichte des 20. Jahrhunderts (offiziell wird dies erst 2021!).

Der Film berichtet weiterhin von Zwangsarbeit, Enteignung und Vertreibung der Einheimischen von ihrem Land und der allgegenwärtigen Prügelstrafe.

Die Ausstrahlung der Dokumentation provozierte wütende Reaktionen vor allem bei der älteren Generation, die nach 1918 auf ein beschönigendes, verharmlosendes Bild der deutschen Kolonisation getrimmt worden war. Landes-Intendanten unter sich: „Mit Ihren beiden Fernsehsendungen unter dem Titel Heia Safari haben Sie die Gemüter der braven Deutschen kräftig aufgerührt. Auch uns erreichen telefonisch und brieflich wüste Beschimpfungen.“ Giordano erhielt sogar Todesdrohungen. (Woran erinnert mich das?) Die jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauer dagegen zeigten sich schockiert, waren doch diese Fakten bislang bewusst verschwiegen worden.

Quelle: Michels, Eckard, Geschichtspolitik im Fernsehen. Die WDR-Dokumentation „Heia Safari“ von 1966/67 über Deutschlands Kolonialvergangenheit, in: Institut für Zeitgeschichte, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), Heft 3, S. 467 – 492, Hier geht’s zum Download.

Doppelte Kolonisierung: Südafrikanische Apartheid

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs musste Deutschland 1919 alle Kolonien abgeben, und Namibia fiel unter südafrikanische Verwaltung, Südafrika war Mandatsmacht der britischen Krone. Die Enteignung der namibischen Bevölkerung ging aber nahtlos weiter. Zwar konnten durch ein Abkommen mit der südafrikanischen Regierung deutschstämmige Siedler im Land bleiben, für die Einheimischen aber wurden sog. „Homelands“ bzw. „Townships“ eingerichtet, in denen sie sich ausschließlich aufhalten durften.

Die Rassentrennung war nur ein Teil der südafrikanischen Apartheid-Regierung, die sich auch trotz internationaler Proteste und Aufforderung durch die UN nicht aus Namibia zurückzog. 1960 gründete sich die SWAPO (South West African People’s Organisation), die erst am 21. März 1990 die Unabhängigkeit Namibias mit ihren ersten Präsidenten Sam Nujoma erreichen konnte. Das Land ist heute eine präsidiale Demokratie, Hage Geingob ihr Präsident.

Namibia und seine Kolonialgeschichte heute

Legales Land?

Ich finde es schwer nachvollziehbar, dass den weißen (deutschnamibischen) Farmern der Gegenwart, denen nach wie vor vorwiegend das meiste fruchtbare Land gehört, sich auf den im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Standpunkt stellen, ihre Großväter hätten damals (also zur Zeit der Kolonialisation) das Land ganz legal und rechtmäßig von der damaligen deutschen Kolonialregierung gekauft. So gesehen in der Spiegel TV-Reportage „Das Erbe des Kolonialismus“ über einen deutschen Herero auf seiner Reise durch Namibia.

Kein Raub von jüdischen Gütern könnte so jemals legitimiert werden wie die namibische Landnahme. Aber solch eine Aufarbeitung, wie sie mit dem Holocaust in Deutschland erfolgen musste, hatten die Deutsch-Namibier einfach nicht.

70% des Landes gehören Weißen, weitere 14 % privilegierten Schwarzen, der kümmerliche Rest der Landbevölkerung. Die Gerechtigkeit beim Landbesitz herzustellen ist eine der vorrangigen politischen Forderungen. Angesichts verbreiteter Korruption kein leichtes Unterfangen. 50% der Bevölkerung gelten als arbeitslos, damit liegt Namibia auf dem dritten Platz mit der höchsten Ungleichheit weltweit.

Namibische Denkmal-Kultur

Trotz dieses katastrophalen Zustandes, welcher sich direkt aus der Kolonialzeit herleitet, gibt es immer noch genügend Denkmäler, die an die Gefallenen aus dem Herero-Aufstandes 1904 erinnern (Weiße wohlgemerkt!) und die sogar zu Nationalen Denkmälern erkoren wurden.

Das Reiterdenkmal zu Ehren der gefallenen Deutschen im Kampf gegen die Herero z.B. wurde erst 2013 hinter die Mauern der Alten Feste in Windhouk verbannt! Und dies in erster Linie weil es anderen Denkmälern weichen musste. In Swakopmund gedenkt das Marine-Denkmal bis heute des Marine-Expeditions-Korps der Schutztruppe und deren Beitrag im Rahmen des Aufstands der Herero und Nama. 2015 wurde das Denkmal bei verschiedenen, nicht genehmigten Aktionen unter anderem durch Farbbeutel beschädigt.

Neue Nationale Denkmäler werden kurioserweise meist von Nordkorea gebaut.

Unabhängigkeits-Gedenkmuseum in Windhouk
Unabhängigkeits-Gedenkmuseum in Windhouk, gebaut von Nordkorea. Im Vordergrund die Statue von Sam Nujoma, erster Präsident des unabhängigen Namibia.

Die Genozid-Debatte

Mehrere Klagen vor Internationalen Gerichtshöfen auf Anerkennung der Schuld und Entschädigungszahlungen durch Nachfahren der beiden Volksgruppen Herero und Nama in den Jahren 1999, 2002 und 2017 scheiterten jeweils.

Erst 2021 (!) erkannte Deutschland den Völkermord an den Herero und Nama als solchen an. Beide Länder vereinbarten, dass Deutschland in den kommenden 30 Jahren 1,1 Milliarden Euro für Entwicklungs- und Versöhnungsprojekte zahlen wird.

Das Abkommen stieß jedoch auf scharfe Kritik bei beiden Volksgruppen. Sie bemängeln, dass sie nicht mit selbst bestimmten Vertretern an den Gesprächen beteiligt waren.

Restitution

Im vergangenen Jahr wurden 23 namibische Kunstwerke vom Ethnologischen Museum in Berlin zurück gegeben, welche nun Teil eines deutsch-namibischen Forschungsprojektes sind. Das Land Baden-Württemberg übergab Familienbibel und Peitsche des Nama-Anführers Hendrik Witbooi (1830-1905, vgl. auch „Afrika den Afrikanern! Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings“ von Hendrik Witbooi ) an den Staat Namibia im Februar 2019.

So kann man hoffen, dass nach und nach das namibische Eigentum wieder an seine rechtmäßigen Eigentümer zurückkehrt.

Auch wenn dabei noch um jeden einzelnen Begriff gefeilscht wird.

Namibias Flagge. Zur Bedeutung der Farben.
Namibias Flagge. Zur Bedeutung der Farben.

Namibia – ein besonderes Land

Vor allem die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen in Namibia ist überall spürbar (nicht, weil wir als Touristen Geld in die Kassen spülen, das sicher auch), aber auch untereinander habe ich die Menschen oft lächeln und lachen sehen. Und das finde ich erstaunlich nach den Jahrzehnten von Unterwerfung und Unterdrückung und zeugt wohl von einer großen Widerstandskraft der NamibierInnen.

In Windhouk wurden wir oft von deutschsprechenden Namibiern angesprochen, und es stellte sich heraus, dass diese ihre Kindheit in der damaligen DDR verbracht hatten. Ab 1979 als Waisen oder Halbwaisen in die DDR gebracht, um später den sozialistischen Gedanken in dem im Umbruch begriffenen Land zu etablieren, wurden sie mit der Unabhängigkeit Namibias 1989 und dem Fall der Mauer wenige Monate zuvor unvermittelt wieder in ihr Heimatland zurück geschickt – inzwischen AusländerInnen im eigenen Land.

Nun ist die Geschichte Namibias so komplex, dass solch ein individuelles, gefühlsmäßiges Durchschreiten der ganzen Themen (von mir) ihr natürlich niemals in Ansätzen gerecht wird – was schade ist.

Gern würde ich mehr und differenzierter schreiben über dieses Land, das man sich in Europa kaum vorstellen kann und das so gleichermaßen beeindruckend und schön wie widersprüchlich ist.

Vielleicht befasse ich mich demnächst einmal mit der zeitgenössischen Kunstszene Namibias.

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