Postkoloniale afrikanische Positionen

Postkoloniale afrikanische Positionen

Schon mehrfach habe ich in diesem Blog über deutschen Kolonialismus in Afrika und die berechtigte Forderung nach Rückgabe gestohlener Kunstgüter an die rechtmäßigen Nachkommen geschrieben (vgl. Kolonisierung und Restitution).

Bei meinem Besuch in Namibia 2023 – deutsche Kolonie 1884 bis 1915 – war mir vor Ort aufgefallen, dass zwar die Kolonialgeschichte aus Sicht der Besatzer bis heute öffentlich sichtbar und wirksam ist. Der Umgang der NamibierInnen damit aber ist alles andere als der von Opfern. Im Gegenteil, hier wird mit der zunehmend erforschten Geschichte eines Volkes (bzw. vieler Volksgruppen in dem Land) selbstbewusst eine neue Kultur demonstriert, die sich ihre Identität fern aller eurozentrischen Zuschreibungen erarbeitet. Das finde ich ganz wichtig und bemerkenswert!

Afrikanische politische Philosophie

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In dem Band „Afrikanische politische Philosophie“ soll genau diese im Zentrum stehen, er ist herausgegeben von Franziska Dübgen und Stefan Skupien im Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.

Im Übrigen erzählt das auch etwas über meine eigene Erkenntnisgeschichte, denn diese Positionen wurden schon vor immerhin acht Jahren veröffentlicht, bis ich jetzt selbst darauf gestoßen bin. In der kommenden Zeit werde ich hier über eine Auswahl der Beiträge referieren, die allesamt hochspannend klingen.

Inhaltsbeschreibung (Klappentext)

Afrikanische Intellektuelle arbeiten seit langem an einem neuen kulturellen Selbstbewusstsein ihres Kontinents und stellen dabei globalgesellschaftliche Großkonzepte wie Demokratie, Freiheit, Gender, Menschenrechte und Kosmopolitismus rigoros auf den Prüfstand.

Sie analysieren das Nachwirken kolonialer Strukturen und formulieren – auch mittels kritischer Aneignung lokaler Praktiken – dezidiert postkoloniale Handlungsmaximen.

Der Band versammelt die wichtigsten Beiträge afrikanischer Denkerinnen und Denker wie Achille Mbembe, Thaddeus Metz, Oyèrónkẹ́ Oyěwùmí, Mogobe B. Ramose, Tsenay Serequeberhan und Kwasi Wiredu zu diesen Themen und führt vor, was Afrikanische politische Philosophie in Zeiten internationaler Migrationsbewegungen heißen kann.

Das Politische in der Afrikanischen Philosophie

Von Franziska Dübgen und Stefan Skupien

Diesen Artikel haben die beiden Herausgeber der Ausgabe vorangestellt. Sie zeigen darin unterschiedliche Trends in der aktuellen politischen Debatte in Afrika auf und umreißen damit schon die folgenden, in vier Themenbereiche eingeteilten Beiträge der afrikanischen AutorInnen.

Afrika ist ein riesiger Kontinent. Und wenn man von Afrika spricht, nennt man in einem Wort 54 einzelne Länder. Deshalb ist überhaupt der Begriff zunächst einmal genauer zu definieren. In diesem Band versammeln sich AutorInnen südlich der Sahara, d.h. es geht nicht um die nordafrikanischen Länder, sondern um die sog. Subsahara-Staaten, immerhin noch 49 Länder.

Subsahara-Staaten
Afrika südlich der Sahara (geografisch), Wikipedia

Dübgen/ Skupien (D/S) gehen noch viel weiter zurück in der Frage: Was ist Afrika? Denn es gibt in erster Linie die Beschreibungen der außerafrikanischen (europäischen) Besatzer, die dem afrikanischen Kontinent lange sowohl eigene Geschichte als auch eigenes Denken abgesprochen haben. Diese Zuschreibungen dienten schon immer einem Machtanspruch und damit der Legitimation der Kolonisierung (Hegel! S.9). Was es an lokalem Wissen gab wurde verdrängt.

Deshalb sei es nicht nur notwendig, sich von diesen Zuschreibungen über Afrika zu lösen, sondern es bedarf sogar einer „Dekolonisierung“ von Inhalten und Methoden der Wissenschaft, in diesem Fall der Philosophie und namentlich der polit. Philosophie, die sich auf Afrika bezieht.

Trends in der afrikanischen Philosophie

D/S zeigen nun diesbezüglich sechs Trends in der afrikanischen Philosophie durch afrikanische Forschende nach:

1. In der Zurückweisung rassistischer Stereotype und der radikalen Aufwertung des „Afrikanischen“ v.a. in den 60er Jahren117 Staaten erlangten die Unabhängigkeit. Mehr hier. entstand als Neue Bewegung die „Negritude“-Bewegung. Bekannter Vertreter war u.a. Frantz Fanon (unten mehr). Auch die Philosophie selbst als griechische Errungenschaft wurde dabei in Frage gestellt, philosophische Strömungen aus Ägypten (als Teil des afrikanischen Kontinents) schienen das afrikanische Gedankengut besser abzubilden.

Doch diese Form der „Ethnophilosophie“ stößt heute auch auf Kritik: gibt es überhaupt eine homogene „afrikanische Persönlichkeit“, auf die sich diese Denkmodelle beziehen könnten? Ist nicht die Proklamation einer solchen auch eine Form von rassistischem Differenzdenken?

2. Ein weiterer Ansatz besteht in der Professionalisierung der afrikanischen Philosophie, welche auf verschiedenen Wegen erfolgen kann:

a) Afrikanische AutorInnen erzählen die Vielzahl der Mythen und Vorstellungen nach.

b) Diese werden systematisches reflektiert und aufbereitet, um den Pluralismus auf dem afrikanischen Kontinent nachzuzeichnen.

3. Mündlich überlieferte, individuell interpretierte Inhalte (sog. „Weisheitsphilosophie“) werden in Schriftform gebracht und erschaffen damit zusätzlich Möglichkeiten für Quellenangaben und Literaturbezüge.

4. Die ideologischen Texte der Unabhängigkeitskämpfer und Staatengründer werden als authentische Quellen herangezogen, welche über Welt- und Staatsbilder Auskunft geben.

Der deutsch-namibische Politikwissenschaftler Henning Melber führt dazu aus:

„Als Anführer des antikolonialen Widerstands wechselte (eine ganze Generation von afrikanischen Staatsgründern) in das höchste Staatsamt: Kwame Nkrumah (von 1957 bis 1966 in Ghana), Sekou Touré (von 1958 bis 1964 in Guinea), Leopold Sedar Senghor (von 1960 bis 1980 in Senegal), Jomo Kenyatta (von 1964 bis 1978 in Kenia), Julius Nyerere (von 1964 bis 1985 in Tansania) und Kenneth Kaunda (von 1964 bis 1991 in Sambia).

Aber auch Simbabwes Robert Gabriel Mugabe gehört dazu, der von 1980 bis 2017 das höchste Amt in Simbabwe bekleidete – und Nelson Mandela, der als Ikone und erstes Staatsoberhaupt von 1994 bis 1999 das demokratische Südafrika repräsentierte. (…) Sam Nujoma, der wie kein anderer den Befreiungskampf in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (Namibia) gegen die völkerrechtswidrige Verwaltung des ehemaligen Mandatsgebiets durch das südafrikanische Apartheid-Regime personifizierte, war seit Gründung der Befreiungsbewegung South West African People’s Organisation (SWAPO) 1960 deren Präsident und wurde mit der Unabhängigkeit der Republik Namibia am 21. März 1990 auch für drei Amtsperioden als Staatsoberhaupt zum Sinnbild der Befreiung von der kolonialen Minderheitsherrschaft.“

Quelle:  https://doi.org/10.30965/9783657702640_015

5. Kritische Hermeneutik

Philosophie entsteht aus einer bestimmten Lebenswelt heraus, schreiben Dübgen/ Skupien. (Sofort habe ich meine „Philosophische Wendeltreppe“2Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken, München 281998 heraus geholt, um sie nochmal unter diesem Gesichtspunkt zu lesen.)

In Afrika bewirkt nun die Differenz zwischen den Idealen der Befreiungsbewegung und den Kontiniutäten von Ausbeutungsstrukturen zunächst einmal eine existentielle Krise. Doch gerade dadurch kann eine Phase fruchtbarer Selbstreflexion eintreten. (Zum Beitrag von T. Serequeberhan).

6. Literatur und Kunst, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte befassen, dienen der afrikanischen Philosophie als Quellen.

„Konzeptionelle Dekolonisierung“

Koloniale Denkweisen lassen sich noch immer auch bei den ehemals kolonisierten finden. Auch dies sind Folgen der mentalen Fremdherrschaft, die reflexiv überwunden werden sollen. Zu dieser mentalen Fremdherrschaft hat der Psychiater und Psychoanalytiker Frantz Fanon publiziert (XXX).

Um sich auf das eigene, ursprüngliche Denken zurück zu kommen, soll Bezug genommen werden auf dezidiert afrikanische Wissenarchive. Dies dient der eigenen Selbstvergewisserung, rückt aber auch die Historie politischen Denkens in Afrika ins Bewusststein. Der Beitrag von Kwasi Wiredu in dem Band untersucht präkoloniale Ideen am Beispiel konsensorientierter Praktiken politischer Entscheidungsfindung.

Aneignung und Neubesetzung von Begriffen

Beispielhaft führen D/S den Begriff der „Person“ an, um die afrikanische Herangehensweise an die Debatte um Menschenrechte, Demokratie, Entwicklung und Selbstbestimmung zu erläutern.

Er beruht darauf, dass eine Person nicht kontextunabhängig gesehen werden kann (so werden auch universelle moralische Kernprinzipien verneint). Vielmehr spielen ethnische Zugehörigkeit, Kultur, Sprache oder Geschlecht eine Rolle, durch die der Mensch – als Mitglied einer Gemeinschaft – zur vollständigen Person wird.

Man entwickelt sich zu einer Person im Lauf der eigenen Sozialisation und in dem Maße, wie man die gesellschaftlichen Verpflichtungen annimmt. D.h. eine afrikanische Person ist immer auch ein gemeinschaftliches Wesen im Gegensatz zum westlichen Begriff der „Person“, die sich auf das Individuum bezieht.

„Ich bin, deshalb sind wir; und wir sind, deshalb bin ich. Dies ist der zentrale Punkt im Verständnis der afrikanischen Wahrnehmung des Menschen.“ (John Mbiti, zit.n. S. 27)

Anders gesagt, das afrikanische Gesellschaftsverständnis gründet auf dem Prinzip des Kommunitarismus3Der Kommunitarismus ist eine politische, philosophische und soziale Bewegung, die den Wert von Gemeinschaften und deren Bedeutung für einzelne und gesellschaftliche Wohlergehen betont. (juraforum.de). In diesem Zusammenhang ist es notwendig zu erforschen, welchen Einfluss dieses Verständnis von Individuen in einer Gesellschaft auf zeitgenössische politische Interaktionen und Institutionen hat.

Gender und Geschlechtergerechtigkeit

In Afrika gibt es bereits eine Vielzahl frauenpolitischer Konzepte und „feminismen“ (bewusst als Plural und klein geschrieben, um zu betonen, dass es nicht den einen universellen Feminismus gibt, bspw. den Radikalfeminismus des Westens). Richtungen wie „Womanism“, „Motherism“ oder „Stiwanismus“ u.ä. werden derzeit diskutiert.

Beispielhafte Beiträge im Einzelnen

Im Folgenden gehe ich auf einzelne Beiträge näher ein. Dies mache ich allerdings nach und nach. In der Zwischenzeit empfehle ich, das Buch zu lesen.

Die Philosophie und das postkoloniale Afrika: Historizität und Denken

Von Tsenay Serequeberhan

Ziel des Beitrages ist es, neue Parameter in der afrikanischen Philosophie einzubringen

Trotz weitgehender politischer „Unabhängigkeit“ (sic) unterscheiden sich die sozioökonomischen Verhältnisse kaum von denen der Kolonialzeit. Und paradoxerweise sind es die „offiziellen Erben des Vermächtnisses des afrikanischen Befreiungskampfes“, die diesen Zustand aufrecht erhalten (s. 58f.) Die Gründe für diese Form des „Neokolonialismus“ zu erkunden sei die eigentliche Aufgabe der zeitgenössischen Afrikanischen Philosophie. Denn nur so lasse sich diese fortgesetzte untergeordnete Rolle in der globalen Welt überwinden.

Dies verfolgt Serequeberhan mit einer „radikalen Hermeneutik der zeitgenössischen afrikanischen Situation“ (Hermeneutik als das Begreifen von Sinnzusammenhängen in gestalteten Werken oder Handlungen).

Wie er das genau meint, folgt.

Wenn wir den Begriff „Entwicklung“ akzeptieren…

Von Fabien Eboussi Boulaga

„Zwei Freiheitsbegriffe“ aus afrikanischer Perspektive

Von Chisanga N. Siame

Demokratie und Konsensus in traditioneller afrikanischer Politik

Von Kwasi Wiredu

Demokratie oder Konsensus? Eine Antwort auf Wiredu

Von Emmanuel Chukwudi Eze

Weitere Positionen

Zwei große Themenbereiche kamen hier noch gar nicht zur Sprache. D/S veröffentlichen in dem Band noch aktuelle afrikanische Beiträge unter III. Gender, Emanzipation und Kolonialismus sowie IV. Ethik und Kosmopolitismus aus dem globalen Süden.

Es lohnt sich also, sich nochmal mit dem gesamten Buch auseinander zu setzen und zu entdecken, wie sich der Kontinent Afrika selbstbewusst und erfolgreich von westlichen Zuschreibungen emanzipiert.

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