Der Verlust (des Vertrauens in die Politik)

Der Verlust (des Vertrauens in die Politik)

Ich bin eine begeisterte Onleiherin, d.h. ich leihe mir ständig Bücher in meiner Stadtbibliothek online aus. Immer mal wieder schaue ich dabei, was denn andere so lesen, z.B. über die Bücher, die zuletzt zurück gegeben worden sind. Dadurch bin ich auf das Buch „Der Verlust“ der Journalistin Anita Blasberg (Hamburg 2022) aufmerksam geworden.

Anita Blasberg, der Verlust, Cover

Der Untertitel lautet: „Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam“.

Inspiriert von Gesprächen mit ihrer Mutter im Corona-Jahr 2021 stellt sich Blasberg die Frage, seit wann das Verhältnis zwischen BürgerInnen und Politik so angespannt, wenn nicht sogar entzweit ist.

„Ich glaube an fast gar nichts mehr.“ (Mutter Blasberg)

So wie sie hatte Ende 2021 fast jeder Dritte das Vertrauen in die Demokratie verloren, mehr als Drittel glaubt, dass es keinen Unterschied mehr macht, wer dieses Land überhaupt regiert.1Studie der Körber-Stiftung 2021, a.a.O. (S. 14). Die globale Welt scheint gespalten, die Politik befindet sich in vielen Ländern in einer Legitimationskrise. Blasberg fragt in diesem Buch nach den Gründen.

Ausgehend von Interviews mit Betroffenen beschreibt Blasberg die konkreten Momente, in denen Vertrauen in die Politik verspielt wurde und in Misstrauen gegenüber den politischen Entscheidungen umgeschlagen ist. Es sind politische und wirtschaftliche Beschlüsse aus den letzten 30 Jahren, die nicht unbedingt einzeln, aber in ihrer Gesamtheit nach und nach offenbar zu Ablehnung und Unverständnis gegenüber dem gesamten politischen System in der Gegenwart führen.

Blasberg nennt folgende Stationen der Ent-Täuschung:

  1. Die Abwicklung der DDR 1990
  2. Die Hartz-Gesetze 2003
  3. Die Finanzkrise 2008
  4. Die Klimakrise 2012
  5. Und weitere Beispiele, die das Vertrauen in den Staat untergraben haben: Die Privatisierung des Gesundheitssystems 2007, die ungenügende Ermittlung bei den Attentaten von Hanau 2020, das unverhältnismäßige Vorgehen gegen Demonstranten in Stuttgart (21) 2010 und viele mehr.

Hier folgen Ausführungen zu den ausgewählten Punkten:

Die Abwicklung der DDR 1990

Teilnehmer einer Demonstration in Unterwellenborn gegen Verantwortliche der Treuhandgesellschaft, 19. Dezember 1990
Teilnehmer einer Demonstration in Unterwellenborn gegen Verantwortliche der Treuhandgesellschaft, 19.12.1990, Quelle: BArch, Bild 183-1990-1219-006 / Franke, Klaus

Hier kommt u.a. der Betriebswirtschaftler Richard J. Flohr zu Wort, der im Jahr 1991 seine erste Stelle als Assistent bei der Treuhand2Die Treuhandanstalt (kurz Treuhand) war eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland mit der Aufgabe, die Volkseigenen Betriebe der DDR nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft zu privatisieren und die „Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu sichern“ oder, wenn das nicht möglich war, stillzulegen. (Wikipedia) übernommen hat.

Doch statt neue Betriebskonzepte entwickeln und umsetzen zu können, bestand Flohrs einzige Aufgabe ausschließlich in der Privatisierung ostdeutscher Betriebe, und das möglichst schnell, weil der Staat noch immer Gehälter, Rechnungen, Maschinen für die unrentablen Betriebe aufwenden musste. Was als Herstellung von „Wettbewerbsfähigkeit nach westlichen Maßstäben“ propagiert wurde, war letztlich ein Ausverkauf der DDR, begleitet von Fördermittelmissbrauch und Wirtschaftskriminalität.

„Noch heute glauben fast 80 Prozent der Ostdeutschen, dass die Treuhand sich nicht ausreichend darum bemüht hat, Arbeitsplätze zu erhalten. Noch heute meint jeder Dritte von ihnen, dass vor allem der Westen von der Wiedervereinigung profitiert hat.“ (S. 63).

Die Hartz-Gesetze 2003

Hartz IV: Tilgungsraten für Eigenheim in Ausnahmefällen als Zuschuss - DGB Rechtsschutz GmbH
Foto: Kurt F. Domnik, pixelio.de

Fünf Wochen vor der Bundestagswahl 2003 tauchte ein SPD-Dossier mit Maßnahmen auf, die die Defizite in Renten- und Krankenkasse und die Arbeitslosenzahl signifikant verringern sollten, mit dem knappen Namen „Hartz“. Die später im Bundestag3Ich erinnere mich, die SPD gewählt zu haben wegen deren Weigerung, am Irak-Krieg teilzunehmen. Tja. äußerst knapp beschlossenen Hartz-Gesetze begründeten eine massive Umwälzung des bisherigen Sozialsystems.

Das neue Credo war: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ (Gerhard Schröder 2003, S. 82). Jede/r Arbeitslose wurden dadurch zu einem potentiellen Betrüger, ihnen wurde unterstellt, faul in der „Hängematte zu liegen“ und undynamisch und unflexibel zu sein. Wer arbeitslos wurde, musste nach spätestens einem Jahr auf seine Rücklagen zurückgreifen, die Armut und damit die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich nahm und nimmt bis heute mit diesem Gesetz enorme Ausmaße an.

Die Finanzkrise 2008

Die einen werden ärmer, die anderen werden reicher, das galt auch im Besonderen auch beim Finanzcrash 2008, bei dem der amerikanische Immobilienmarkt in sich zusammen fiel und damit den globalen Finanzmarkt mit sich riss.

A man walks out of the Lehman Brothers building carrying a box of his belongings in New York September 15, 2008. Lehman Brothers Holdings Inc filed for bankruptcy after trying to finance too many risky assets with too little capital, becoming the largest and highest-profile casualty of the global credit crisis. Based on assets, Lehman far surpassed WorldCom as the largest U.S. bankruptcy ever. Lehman had assets of $639 billion at the end of May, while WorldCom had $107 billion when it filed for bankruptcy protection in 2002. REUTERS/Joshua Lott (UNITED STATES)
Entlassener Lehman-Banker 2008 Foto: Joshua Lott/ REUTERS

Rainer Voss, einer der Protagonisten aus der Dokumentation „Masters of the Universe“, kommt auch hier zu Wort und berichtet davon, „wie Politiker in Berlin mit blassen Gesichtern von Krisensitzung zu Krisensitzung hetzten. Wie sie ein erstes Rettungspaket in Milliardenhöhe schnürten. Dann ein zweites. (Er) staunte: Der Staat überschritt nun jede Grenze, um das System zu retten. Er übernahm die Schulden von privaten Unternehmen, ohne dafür auch nur eine echte Gegenleistung zu verlangen.

Die deutschen Steuerzahler retteten die Hypo Real Estate mit 20 Milliarden Euro und die IKB mit 11 Milliarden Euro.“ (S. 173) Bis heute gibt es keine Regulierung, da seien die Lobbyisten vor. Doch für jeden einzelnen Steuerzahler scheint auf einmal der simpelste Förderantrag eine Zumutung an den Staat zu sein.

Die Klimakrise

Beispielhaft stellt Blasberg einen amerikanischen PR-Manager vor, den sie im Jahr 2012 bei seiner Arbeit als Lobbyist der Industrie begleitet hat (vgl. Blasberg, Anita/ Kohlenberg, Kerstin, Die Klimakrieger, DIE ZEIT Nr. 48/2012).

Im Lauf der Jahre ist ihm und seiner Zunft gelungen, im großen Stil Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu wecken. Der millionenschwere Kampf gegen die Fakten hat – auch in Europa – zur Folge, dass der Klimawandel heute bei vielen als subjektive Wahrnehmung und als eine Meinung unter anderen gilt.

Fazit

Blasberg untermauert ihre Thesen mit Studien und Veröffentlichungen und zitiert immer wieder Experten zum Thema. Aber auch individuell Betroffene kommen immer wieder zu Wort, dadurch wird die Erzählung sehr anschaulich.

Zum Schluss entwirft sie eine politische Utopie, mit der das Vertrauen in wirtschaftliche und politische Entscheidungen wieder zurück gewonnen werden könnte. Und das scheint mir gar nicht wirklich unrealistisch, die Frage ist für mich nur, ob das überhaupt gewünscht ist.

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