Interpretation und Aneignung: Mein König Lear

Interpretation und Aneignung: Mein König Lear

Mein letztes künstlerisches Projekt (vgl. Ich baue ein Papiertheater) war noch nicht komplett abgeschlossen mit dem Bau und des damit gezeigten, radikal reduzierten Theaterstücks des Königs Lear. Vielmehr ging es von Anfang an darum, eine Bearbeitung der Geschichte im Sinne meiner eigenen Geschichte zu kreieren. Dass es ein Papiertheater (bzw. „Korkentheater“) wurde, war in dem Zusammenhang durchaus stimmig und hat mich herausgefordert zu erproben, wie stark Haltungen/ Positionen reduziert werden können, um letztlich noch verständlich zu bleiben.

Im Grunde aber war die konkrete Umsetzung zweitrangig in Bezug auf die intendierte Aussage.

Also gibt es zwei Versionen, einmal die Erzählung des König Lear als Korkentheater, zum anderen meine persönliche Geschichte als Reminiszenz an König Lear. Und diese gibt es hier:

Das Ergebnis

Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt war tatsächlich der Online-Kurs zum Bau eines Papiertheaters, aber schon bei der Auswahl des Stückes war mir klar, dass es nur „König Lear“ sein kann, da diese Handlung zweifellos meine eigene Situation widerspiegelt(e).

Es handelt sich um einen alten Mann, der falsche Entscheidungen trifft, misstrauisch seine Umgebung betrachtet und nicht mehr angemessen auf die täglichen Herausforderungen des Alltags reagieren kann. Er unterstellt nahen Angehörigen unredliches Verhalten, vertraut niemandem mehr und ist nur noch einigermaßen freundlich zu denen, die ihm nützlich sein können. Mit allen Personen aus seinem früheren Leben hat er nach und nach gebrochen. So ist mein Stiefvater.

Und hier sprechen (Stief-)Tochter und (Stief-)Vater (letzterer in diesem Fall ungleich der Realität mit Einsicht) im „König Lear“:

Cordelia
All ihr gesegneten,
All ihr geheimen Wirkkräfte dieser Welt,
Sprießt, wo ich weine! Heilsam seid und helfend
In dieses Mannes Not! Sucht, sucht nach ihm,
Eh seine wirre Wut das Leben auflöst,
Das sich nicht selbst mehr führn kann.
(…)
Gütige Götter, ihr, heilt ihm
Den Bruch seiner missbrauchten Menschnatur!
Den disharmonisch schrillen Geist stimmt neu
Im kindgewordnen Vater.

König Lear
Bitte, mich nicht verspotten:
Ich bin ein närrisch blöder alter Mann,
Achtzig und drüber; kein Stündchen mehr noch weniger;
Und, dass ich’s recht sag,
Ich fürchte, ich bin nicht ganz bei Verstand.
Mir ist, ich sollt Sie kennen und den Herrn;
Doch weiß ich nicht so recht: denn ich begreif gar nicht,
Wo ich hier bin, und müh mich, wie ich will,
Kenn ich die Kleidung nicht; noch weiß ich, wo
ich letzte Nacht schlief. Lacht nicht über mich;
Denn ich, so wahr ich Mensch bin, denk, die Dame,
Die wär mein Kind Cordelia.
(…)
Sind deine Tränen nass? Ja, wirklich. Bitt dich, nicht weinen:
Wenn du Gift für mich hast, ich will es trinken.
Ich weiß, du liebst mich nicht; denn deine Schwestern,
Erinnert’s mich, die taten mir viel Unrecht:
Du hast schon Grund, die nicht.

Musst Nachsicht mit mir haben.
Bitt euch, vergesst und vergebt: ich bin alt und närrisch.

(IV. Akt, 7. Szene)

Die Herangehensweise

Nachdem ich die schon stark verkürzte Geschichte mittels der Korken nacherzählt hatte, wählte ich bewusst einzelne Szenen, um den Kern des erratischen Verhaltens des Hauptdarstellers heraus zu arbeiten. Denn den Dialog, wie ich ihn oben nachgezeichnet habe, gibt es in der Realität leider nicht.

Stattdessen geht es letztlich darum, wer ihn am meisten liebt, wer ihn überhaupt liebt, ob er überhaupt liebenswert ist – und bevor eine Zurückweisung durch andere erfolgen kann, ist es leichter, wenn sich der oder die andere sowieso falsch verhalten hat. So kann sich der alte Mann guten Gewissens selber von ihnen trennen und hat sogar noch das Recht auf seiner Seite.

Natürlich musste für diese Geschichte auch eine andere Musik gewählt werden (wie üblich über Pixabay gefunden).

Das Korkentheater

Eine Theaterfreundin von mir prägte den Begriff „Korkentheater“ und prophezeit diesem eine glänzende Zukunft! Soviel Vertrauensvorschuss motiviert mich total, an dieser Form weiter zu arbeiten. Grundlage ist dabei immer die Aussagekraft des Reduzierten.

Also auf zur zweiten Premiere!

3 Gedanken zu „Interpretation und Aneignung: Mein König Lear

  1. Ich finde die Fassung absolut genial.

    Zusammen mit der Musik wird das Drama richtig spannend, ist aber auch komisch.

    Beim ersten Mal Gucken habe ich die ganze Zeit vor mich hin gelacht. Dabei ist die Handlung alles andere als witzig, aber die Kombination von Text und die Aktionen der Figuren, z.B. an der Stelle, wo sich alle von dem König wegdrehen, das ist entzückend witzig. Überhaupt ist die Position der Nasen ausschlaggebend.

    Mein Fazit: Das Drama wurde absolut auf den Punkt gebracht.

    Ich wäre nicht darauf gekommen, dass ein Stiefvater auch eine Quelle der Inspiration sein kann.

    Das ist doch Theater pur: Ein ärgerliches oder aufwühlendes Ereignis in Kunst zu verwandeln von allgemeiner Gültigkeit.

    Meine Interpretation war, dass so etwas dabei rauskommt, wenn Menschen nicht offen miteinander umgehen können, weil sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Motiven haben und / oder den Schein wahren wollen. Sowas kommt von sowas! Bei Shakespeare geht die Psychologie für mich unter all den gereimten Worten und der Handlung ein bisschen unter.

  2. Hier noch ein Nachtrag: Vor Kurzem erst habe ich den Fernsehfilm unter der Regie von Richard Eyre (2018) mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle entdeckt, und der hat mich unendlich berührt. Das ist genau die Fassung, die ich im König Lear sehe, und Hopkins verkörpert diesen starren Alten ganz bravourös!

    Hier findet man die 1. Szene, in der Lear sein Reich aufteilt: https://www.youtube.com/watch?v=mZJLlsj6JNY&ab_channel=ZsuzsannaUhlik
    Großartig!

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