Die Inszenierung religiöser Rituale
Seit einiger Zeit interessiert mich der Zusammenhang von Theater und Religion – oder vielmehr umgekehrt: wie sich das Theater aus religiösen Riten entwickelt hat, und welche theatralen Elemente es noch heute in religiösen Zeremonien gibt. Wie funktioniert die Inszenierung religiöser Rituale?
Hier soll es also nicht um Theaterstücke gehen, die die verschiedenen Religionen thematisieren, um Beispiele wie Kleists „Nathan der Weise“, Goethes „Faust“ oder vielleicht auch „Unterwerfung“ von M. Houellebecq, sicher „Nabucco“ von G. Verdi.
Auch befasse ich mich nicht mit dem Thema „Religion“, das auf den Bühnen der Gegenwart verhandelt wird. Nur kurz dazu: Offenbar hat das Theater der Neuzeit bisher keine glaubwürdige Auseinandersetzung mit dem Thema „Religion“ geliefert – die Darstellung scheint sich auf eine Zurschaustellung und Kritik an den Gläubigen zu beschränken. Der Nachtkritik-Redakteur Dirk Pilz hat dazu einen kenntnisreichen Artikel verfasst.
Dessen ganz ungeachtet soll es um die Frage gehen, inwieweit religiöse Zeremonien auch immer eine Form von Inszenierung sind und wie sich aus diesen Ritualen das Theater selbst geformt hat.
Dabei geht es in eine ferne Vergangenheit der Theatergeschichte von der Frühzeit an. Es fühlt sich ein bisschen so an, also würde man den Werdegang des Menschen vom ersten Auftauchen über den Neandertaler bis zum Homo sapiens erzählen wollen…
Ritual und Theater
Was ist ein Ritual?
Ein Ritual lässt sich am besten über dessen Durchführung beschreiben: Gemein ist allen Ritualen im weitesten Sinne der Vorgang des Tuns, ein Durchführen, eine Performance, diverse Praktiken oder Handlungen, ein Machen von etwas. Inhaltlich können dies sowohl religiöse als auch weltliche Anlässe sein.
Umgangssprachlich versteht man darunter auch stereotyp wiederholte Tätigkeiten wie das morgendliche Zähneputzen oder die samstägliche Wagenwäsche.
Hier geht es aber um Vorgänge, die wichtig sind für eine Strukturierung der konkreten Lebenswelten und der Gesellschaft insgesamt. Dabei bringen sowohl sakrale (Hochzeit, Taufe, Andacht) als auch weltliche Rituale (Wahlen, Ehrungen, Reden usw.) in beiden Fällen Symbolisches, Abstraktes zum konkreten Ausdruck. (vgl. Fiebach 2003).
Zweck von Ritualen
Rituale können unterschiedlichen Zielen dienen. Religiöses Wissen kann durch Handlungen und Bilder fassbar gemacht werden, Beispiel: Die Passionsspiele – christlich-geistliche Dramen um die Passion, also das Leiden und Sterben Jesu, seit dem Mittelalter bis zur Gegenwart. Ziel kann es auch sein, einen abstrakten weltlichen Vorgang sichtbar zu machen, wie z.B. bei einer öffentlichen Einbürgerungsfeier.
Die Bedeutung von Ritualen liegt dabei jeweils darin, eine Gemeinschaft zu bilden bzw. zu festigen und gegebenenfalls soziale Widersprüche, Konflikte und Spannungen zu überwinden und aufzuheben. Gesellschaftliche Konflikte können mit Ritualen aber dagegen auch öffentlich bloß- und ausgestellt werden und damit Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Klassen, den Geschlechtern und den verschiedenen Altersgruppen vorantreiben.
Andererseits wird rituelle Theatralität auch immer wieder dazu genutzt, hierarchische Gesellschaften durchzusetzen oder zu stabilisieren. (Fiebach 2015: 17)
Entstehung des Theaters aus dem Ritual
Das Phänomen Theater hatte seinen Ursprung in magischen Ritualen. Schon in den steinzeitlichen Höhlenzeichnungen von tanzenden Menschen in Tierverkleidung erkennt man beides zugleich.
Der Mensch versuchte mit den Ritualen, die Dämonen des Regens oder des Meeres zu bannen, oder in Brauchspielen und Tänzen die Fruchtbarkeit des Bodens zu beschwören. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Maskierung von Gesicht und Körper als Mittel zur „Auslöschung“ der eigenen Person, zur Transformation in den Zustand der Trance und Ekstase, des Aus-Sich-Heraustretens. Der Tänzer war, im wörtlichen Sinne, „besessen“ von dem Geist dessen, den er verkörperte.
Die Rituale bestanden meist in der nachahmenden Darstellung des gewünschten Zustandes: Der Jäger imitierte das Tier, das er erbeuten wollte, der Krieger den besiegten Feind; der Bauer beschwor durch die Pflanzenverkleidung eine üppige Vegetation.
Im Lauf der Zeit änderten sich die Vorstellungen des Menschen von der Natur und dem Kosmos. Aus den Dämonen als Verkörperungen der Naturkräfte wurden menschengestaltige Götter. Diese suchte man nicht mehr durch körpersprachliche Befehle und Beschwörungen günstig zu stimmen, sondern durch Opfer und Gebete.
In der Gestalt des Priesters schuf sich die Gemeinschaft eine Vermittlungsinstanz, die göttlich berufen und gesellschaftlich sanktioniert ist, den Gott auf Erden zu repräsentieren. Der Priester weist im religiösen Ritual stellvertretend auf die Macht hin, die sich in ihm offenbart. Die Gemeinde verhält sich dabei im wesentlichen passiv. (vgl. Simhandl 2007: 12f.).
Und hier hat mir Hr. Simhandl echt einen Geistesblitz beschert:
Während der Priester etwas darstellt, stellt die Gemeinde sich lediglich etwas vor. Entkleidet man dieses Verhalten seines religiösen Charakters, so entspricht es ganz und gar der Struktur von Theater. Dort tritt allerdings an die Stelle des verpflichtenden Glaubens an die Realität des Dargestellten die freiwillige Verabredung, die fiktive Realität des Spiels als echt zu akzeptieren.
(Voraussetzung für den Schritt dahin war selbstverständlich die Tatsache, dass der Mensch gelernt hatte, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden, auch eine Errungenschaft des Menschen.)
Selten hat mir jemand das Entstehen von Theater so plausibel und bildhaft dargestellt.
Ritual oder Theater?
Hier zitiere ich einen Auszug aus einem Artikel von Daniel Wom, „Theater und Psychologie: Die Wirkung der Darstellung auf das Publikum“ (das-wissen.de)
Er spricht ausschließlich über das Theater – ich aber setze hier einmal „Theater“ und „Ritual“ gleich. Es ergeben sich bemerkenswerte Ähnlichkeiten!
„Das Theater/ das Ritual ist eine sinnliche Erfahrung, bei der die Zuschauer unmittelbar mit den Darstellern und der Bühnenshow interagieren. Schon der Besuch des Theaters/ des Rituals an sich kann eine aufregende Erfahrung sein. Das Ambiente, die Aufregung vor der Vorstellung und das gemeinsame Erleben mit anderen Menschen tragen zur besonderen Atmosphäre des Theater/ des Rituals bei.
Eine der zentralen psychologischen Phänomene, die im Theater/ bei dem Ritual auftreten, ist die Identifikation. Die Zuschauer können sich mit den Charakteren identifizieren und deren Erfahrungen und Emotionen nachempfinden.
Ein weiteres Phänomen im Theater/ beim Ritual ist die Katharsis. Durch bestimmte theatralische Techniken und Darstellungen können die Zuschauer ihre eigenen Gefühle und Emotionen reflektieren und verarbeiten. Das Theater/ Ritual bietet einen sicheren Raum, in dem die Zuschauer ihre innersten Gedanken und Gefühle erkunden können, ohne sich dabei verletzlich oder bloßgestellt zu fühlen. Diese emotionale Freisetzung kann zur Befreiung von negativen Emotionen und zur Stärkung des emotionalen Wohlbefindens beitragen.“
Diese enge Verbindung zwischen Ritual und Theater scheint also folgerichtig.
Die Inszenierung einer Trauerfeier
Hier komme ich nun zu dem tieferen Grund, warum ich mich für das Thema interessiere.
Als meine Mutter starb, wollte ich uns einen besonderen, inszenierten Abschied bereiten. Auch in diesem Fall spielte das Theater, speziell die Oper, eine besondere Rolle.
Ebenso wie vor Kurzem Puccinis „Madama Butterfly“.
Was ist eine Trauerfeier?
Wie eine Trauerfeier in der Gegenwart abläuft, beschreibt Annika Wenzel auf bestattungen.de (hier ein Auszug):
„Eine Trauerfeier ist die – rituelle – feierliche Abschiednahme von dem Verstorbenen. Sie bietet Angehörigen und Freunden die Gelegenheit, dem Verstorbenen zu gedenken und die letzte Ehre zu erweisen.
Für eine individuelle Trauerfeier kann die Musik (u.a.) ausgewählt werden, die mit der Person verbunden ist.
Der Ort der Trauerfeier ist üblicherweise die Kapelle des Friedhofs, auf welchem der Verstorbene anschließend beigesetzt wird. Einige Bestattungsunternehmen bieten auch eigene Räumlichkeiten für eine eher weltliche Trauerfeier an. Die Trennung zwischen weltlichen und religiösen Trauerfeiern entstand durch die Feuerbestattung. Die Kirche tolerierte diese Art der Beisetzung lange Zeit nicht, da diese im Widerspruch zu dem im Glaubensbekenntnis verankertem Gedanken der leiblichen Auferstehung der Toten steht. Aus diesem Grund entstanden auch Trauerfeiern fern einer Friedhofskapelle.
Der Sarg wird zur Trauerfeier üblicherweise mit Blumen geschmückt. Die Teilnehmenden tragen üblicherweise Schwarz. Manche möchten bereits einige Minuten vor Beginn der Trauerfeier zugegen sein, um einen Moment des stillen Gedenkens am Sarg oder an der Urne zu nutzen. In der Friedhofskapelle stehen die ersten Reihen den engsten Angehörigen zu.
Nach Beendigung der Zeremonie folgt die Trauergemeinde den Sargträgern mit dem Sarg zur Grabstätte. Hier gibt es die Möglichkeit, sich zu verabschieden. An dieser Stelle können auch Blumen, Briefe oder Fotos in das Grab gegeben werden.“
Programm der Trauerfeier
Meine Mutter und ich haben oft die Oper besucht. Ein besonders beeindruckender Abend war für uns Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“. Ein Part davon ist „Suor Angelica“.
Schwester Angelica wird ins Kloster geschickt, nachdem sie ihr einziges, uneheliches Kind abgeben musste. Stets begleitet sie seitdem die Sehnsucht nach ihrem Sohn.
Als sie von seinem Tod erfährt, trinkt sie aus Verzweiflung Gift, bittet jedoch die Mutter Gottes um Gnade.
In diesem Moment beginnt die Kirche zu leuchten, und ein Knabe tritt auf Angelica zu, begleitet vom Chor der Engel.
Angelica stirbt.
Angelica stirbt. Meine Mutter ist gestorben. Wichtig war das einmalige, stimmungsvolle Zelebrieren dieses Abschieds.
Deshalb verlief die Trauerfeier im Folgenden so:
Ave Maria (3:14)
CHOR
Gegrüßet seist du, Maria, du bist voll
Gnaden, der Herr ist mit dir!
Du bist gebenedeit unter den Weibern,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus!
Heilige Maria, bitte für uns Sünder.
SCHWESTER ANGELICA
Bitte für uns Sünder,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!
CHOR
… bitte für uns Sünder,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!
Amen.
Senza Mamma (4:05)
SCHWESTER ANGELICA
Ohne Mutter, Kind, bist du gestorben!
Deine Lippen, ohne meine Küsse,
erblassten, wurden kalt, kalt!
Du schlossest, Kind, die schönen Augen!
Du konntest mich nicht liebkosen
und faltetest deine Händchen zum Kreuz!
Und du starbst, ohne zu erfahren,
wie sehr deine Mutter dich liebte.
Nun bist du ein Engel des Himmels,
nun kannst du sie sehen, deine Mutter.
Du kannst herniedersteigen vom Firmament,
und ich fühle dich mich umschweben –
Du bist hier, du bist hier, du küsst und liebkost mich!
Ach, sag mir, wann ich dich im Himmel sehen darf?
Wann darf ich dich küssen?
O süßes Ende aller meiner Schmerzen!
Wann darf ich mit dir zum Himmel aufsteigen?
Wann darf ich sterben?
Wann darf ich sterben, wann sterben?
Sag es deiner Mutter, du schönes Wesen,
mit dem leichten Glitzern eines Sterns!
Sprich zu mir, sprich zu mir, mein Liebling,
mein Liebling, mein Liebling!
Sorella (5:56)
SCHWESTER GENOVIEFFA
Schwester, liebe Schwester,
die Jungfrau hat das Gebet erhört!
DIE SCHWESTERN
Jetzt müsst Ihr zufrieden sein, Schwester,
die Jungfrau erwies Euch eine Gnade!
SCHWESTER ANGELICA
Die Gnade stieg hernieder vom Himmel,
schon hat sie mich entzündet,
sie leuchtet, sie leuchtet!
Schon sehe ich das Ziel, Schwestern!
DIE SCHWESTERN
Amen!
SCHWESTER ANGELICA
Schwestern, ich bin glücklich, glücklich!
Lasst uns singen!
Jetzt singen sie im Himmel!
Preist die heilige Jungfrau!
DIE SCHWESTERN
Lasst uns singen! Jetzt singen sie im Himmel! Amen!
Preist die heilige Jungfrau!
Preist die heilige Jungfrau!
SCHWESTER ANGELICA
Ah, preist sie!
DIE SCHWESTERN
Amen!
SCHWESTER ANGELICA
Die Gnade stieg hernieder vom Himmel!
Schwester Angelica hat immer ein gutes Mittel,
aus Blumen bereitet.
Ihr freundlichen Blumen, die ihr im kleinen Herzen
die Tropfen des Giftes verschlossen haltet!
Ah, mit welcher Pflege ich euch bedachte!
Nun dankt ihr es mir.
Durch euch, meine Blumen, werde ich sterben.
Addio, buone sorelle (5:26)
SCHWESTER ANGELICA
Lebt wohl, liebe Schwestern, lebt wohl, lebt wohl!
Ich verlasse euch für immer.
Mein Sohn hat mich gerufen!
Im Licht eines Sternes
erschien mir sein Lächeln;
er sagte: Mutter, komm ins Paradies!
Lebt wohl! Lebt wohl!
Leb wohl, kleine Kirche! So oft habe ich in dir gebetet.
Mild nahmst du meine Gebete und Tränen auf.
Herabgesenkt hat sich die selige Gnade!
ich sterbe für ihn, und im Himmel sehe ich ihn wieder.
Ah!
Ah, ich bin verdammt!
ich habe mir selbst den Tod gegeben!
ich sterbe in der Todsünde!
(wirft sich verzweifelt auf die Knie)
O Madonna, Madonna, rette mich, rette mich!
Meinem Sohn zuliebe rette mich!
CHOR (hinter der Szene, entfernt)
Königin der Jungfrauen, sei gegrüßt, Maria!
SCHWESTER ANGELICA
Ich war nicht bei Verstand!
CHOR
Keusche Mutter, sei gegrüßt, Maria!
SCHWESTER ANGELICA
Lass mich nicht in Verdammnis sterben!
Zum Schluss:CHOR
Königin des Friedens, sei gegrüßt, Maria!
SCHWESTER ANGELICA
Gib mir ein Zeichen der Gnade,
gib mir ein Zeichen der Gnade!
Madonna! Madonna! Rette mich! Rette mich!
(Das Wunder beginnt. Die Kirche scheint von
Licht erfüllt; die Tür öffnet sich langsam, und
man sieht das Innere von Engeln angefüllt.)
CHOR
O Glorreiche unter den Jungfrauen,
hoch erhaben unter den Sternen!
Die du den Knaben gebarst
und ihn an deiner Brust saugtest!
SCHWESTER ANGELICA
O Madonna, rette mich!
Eine Mutter bittet, eine Mutter fleht dich an!
O Madonna, rette mich!
CHOR
Was Eva traurig verlor,
gabst du durch die Frucht deines Leibes zurück;
auf dass die Schwachen zu den Sternen aufsteigen,
öffnest du die Tore des Himmels!
Du Glorreiche unter den Jungfrauen, sei gegrüßt, Maria!
(Auf der Schwelle erscheint die Königin des Trostes,
vor ihr ein kleiner blonder Knabe, ganz in Weiß.
Die Jungfrau sendet das Kind zu der Sterbenden.)
SCHWESTER ANGELICA
Ah!
CHOR
Du Königin der Jungfrauen!
SCHWESTER ANGELICA
Ah!
CHOR
Du getreue Jungfrau, sei gegrüßt, Maria!
Du Glorreiche unter den Jungfrauen, sei gegrüßt, Maria!
(Der Knabe tut den ersten Schritt.)
Du reinste Mutter, sei gegrüßt, Maria!
(Die Knabe tut den zweiten Schritt.)
Du starker Turm Davids, sei gegrüßt, Maria!
(Der Knabe tut den dritten Schritt. Schwester
Angelica sinkt sanft zurück und stirbt. Die
wundersame Erscheinung leuchtet.)
Anmerkung
Angelica stirbt in Frieden, nachdem sie sich ihr Leben lang ganz für ihr Kind hingegeben hat. Das erscheint mir eine so passende Analogie, dass sie mich bis heute tief berührt. Immer wieder denke ich trotz des traurigen Anlasses an diese besondere Trauerfeier zurück.
Literatur
- Fiebach, Joachim WeltTheaterGeschichte. Eine Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin 2015
- Fiebach, Joachim, Ritual, in: Koch, Gerd/ Streisand, Marianne (Hg.), Wörterbuch der Theaterpädagogik, Milow 2003, S. 252-254
- Puccini, Giacomo, Suor Angelica, Aufnahme des WDR Köln 2012 mit Kristine Opolais in der Titelrolle, Amazon
- Simhandl, Peter, Theatergeschichte in einem Band, Leipzig 2007