Die „Fallhöhe“ im Schauspiel

Die „Fallhöhe“ im Schauspiel

Die Fallhöhe ist zweifellos eines meiner Lieblingsthemen im Schauspiel.

Sie ist ein zentrales Element bei der Gestaltung einer Figur, denn sie beschreibt das Ausmaß der „Katastrophe“, die dieser im Lauf der Handlung widerfährt – und die Katastrophe gibt es noch immer in den meisten Theaterstücken.

Fallhöhe ist ein Begriff aus der Tragödie, und auch die hat selber eine spannende Geschichte hinter sich.

Zur Bedeutung

Um den Begriff zu erklären, nehmen wir zwei Stationen in einem Theaterstück:

  1. Den sozialen, materiellen oder emotionalen Ausgangspunkt, von dem aus eine Figur ihren Weg durch das Stück startet – oder an dem sie sich zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb des Stücks befindet, und
  2. den entsprechenden Zustand, in den sie nach der Katastrophe gefallen ist.

Diese Spanne wird mit dem Begriff „Fallhöhe“ bezeichnet. Je größer die Fallhöhe, desto tragischer und berührender ist das Schicksal einer Figur.

Denn wenn der Punkt hoch angesetzt ist, bedeutet das, dass die Figur viel verlieren kann. Sie ist also beispielsweise in einer hohen Position, in größter Unwissenheit, in bester Stimmung bis zur Überheblichkeit o.ä. Beispiele dafür wären: Shakespeares König Lear, Camus‘ Missverständnis, Molières Don Juan.

Wenn der Punkt niedrig ist, kann die Erfolgskurve nur nach oben gehen. Wer schon am Boden ist (materiell oder psychisch), kann kaum tiefer fallen. Dies dennoch zu zeigen, hat keinen Erkenntniswert, eine Figur am Ende erzeugt Mitleid, führt aber nicht weiter. Jemand könnte also, ausgehend von einem tiefen Startpunkt, etwas gewinnen und dann (aus Versehen, aus Dummheit) wieder verlieren – plakatives Beispiel: Lucy Prebble, Enron.

In letztem Beispiel kommt noch die Hybris zum Einsatz (s.u.): man meint sich besser gestellt als es die Realität hergibt -> hier haben wir es sogar mit Überheblichkeit gepaart mit hoher Position + größter Unwissenheit zu tun.

Wippe Statusspiele Johnstone

Nicht ohne Grund erinnern diese Überlegungen an die sog. „Statusspiele“ (Keith Johnstone, s.u.). Ich habe schon von der „Wippe“ von hohem und niedrigen Status gesprochen: hier zeigt er sich in ganz besonderem Maße.

Ursprünglich aber kommt der Begriff „Fallhöhe“ aus einer schon in der Antike entwickelten Dramentheorie. Dort hat er noch viel mit äußerem, sozialen Status zu tun und steht eher der Tragödie nahe.

Entstehung des Begriffs

Antikes Theater

Der Ursprung der Tragödie liegt interessanterweise in den lärmenden, orgiastischen Festen zu Ehren des ekstatischen Wein- und Fruchtbarkeitsgottes Dionysos (um 1000 v.u.Z.1vor unserer Zeitrechnung) in Griechenland.

Dionysos und Demeter
Demeter und Dionysos, 5. Jht. v.u.Z., Grant/ Hazel 1989: 128

Dionysos ist aber nicht nur der sanftmütige himmlische Vertreter tanzender, trunkener und kopulierender Menschen, sondern er ist gleichzeitig der rasende, aufbrausende und zerstörerische Gott einer Schattenwelt und des Todes, welche jeweils durch rituelle Bocksopfer veranschaulicht wurden (tragōdía = Bocksgesang). Dionysos hat also (mindestens) zwei Gesichter, er bewegt sich zwischen Tod und Wiederauferstehung.

Grundsätze der Tragödie

Mit der Errichtung der Großen Dionysien, einem tagelangen Staatsfest mit Musik, Tanz, Wein und einem Tragödienwettbewerb um 600 v.u.Z. begann sich auch das Theater zu entwickeln. Thespis war der erste Autor, der im Jahr 534 v.u.Z. dem traditionellen Chor einen Schauspieler zur Seite stellte2Man kennt den Ausdruck „Thespiskarren“. Thespis hat wohl nicht nur Schauspieler eingeführt, sondern sie angeblich auch auf einem Wagen spielen lassen., mit dem dieser in Dialog trat, später kamen zwei, dann drei Schauspieler hinzu, sodass eine komplexere Handlung auf der Bühne erzählt werden konnte. In dieser Zeit wirkten auch attische Schriftsteller wie Aischylos, Sophokles und Euripides. „Die erhaltenen Tragödien des 5. Jahrhunderts, ein Beispiel wäre ANTIGONE des Sophokles, behandeln oft äußerst scharfe Konflikte, die sich aus dem Zusammenstoß von Interessen und Werten der Haushaltsgemeinschaften, weitergehend einzelner Individuen (Euripides) und den Staatsinteressen der Polis ergaben“ (Fiebach 2015: 53).

Aspendos Amphittheater
Beispielhaftes Amphittheater: Aspendos, Türkei, 2. Jht.

Der griechische Universalgelehrte Aristoteles führte um 334 v.u.Z. diese Entwicklung in seiner Schrift „Poetik“ zusammen und schrieb darin über die Dichtkunst, seine Gattungen und Regeln. Seit der Renaissance ist sie (wieder) ein Standardwerk, mit der sich Schriftsteller, Philosophen und Theatermacher auseinandersetzen.

Der folgerichtige Ablauf der Tragödie führt demnach zwangsläufig in die Katastrophe, ähnlich wie das menschliche Schicksal im Verständnis dieser Zeit. Oft spielt dabei die Überhebung des Menschen über die Götter (Hybris) eine Rolle, ein Fehlverhalten, das sowieso unvermeidlich in die Katastrophe führt.

Ziel des attischen tragischen Dramas ist die Katharsis (Reinigung, Läuterung), eine Art seelischer Reinigung des Zuschauers. Der Schauspieler muss zu diesem Zweck eine sehr gute Nachahmung der Welt (Mimesis) beherrschen. Später schrieb Gotthold Ephraim Lessing in „Über das Theater“, die Tragödie solle nicht nur die Reinigung ermöglichen, sondern darüber hinaus auch die Affekte in „tugendhafte Fertigkeiten“ umwandeln, d.h. also sogar zu gutem Handeln anregen (Lessing 1767, 74 f.).

Eine weitere Regel besagt, dass die Figuren der Tragödie von höherem Stand („gute Menschen“) und die der Komödie von niederem Stand („lächerliche Menschen“) sein müssen. Dies ist die sog. Ständeklausel, die vor allem im Frankreich des 17. Jhts. ausagiert wurde (Corneille, Racine).

Die Ständeklausel

Unter Ludwig IVX., dem absolutistischen „Sonnenkönig“ Frankreichs (Regentschaft 1661 – 1715), folgte auch das Drama den absoluten – allerdings ins Extrem gesteigerten – Regeln des Aristoteles.

In der Tragödie sollten demnach nur die Schicksale von Königen, Fürsten und anderen hohen Standespersonen dargestellt werden. Die Lebensweisen bürgerlicher Personen fanden demgegenüber nur in Komödien ihren Platz. Begründet wurde das Prinzip damit, dass es dem Leben der Bürgerlichen an Größe und Bedeutung und der Darstellung der Figuren damit an der Fallhöhe mangele.

In Deutschland versuchte Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) die Prinzipien der französischen Klassik auf das deutsche Theater zu übertragen. Das klappte aber nur bedingt, weil es in Deutschland zu dieser Zeit nicht so eine ausgeprägte Standesgesellschaft gab, sondern viele kleine Grafschaften und Herzogtümer, welche sich eher Wandertheater in ihre Schlösser luden (Hallo Thespiskarren!). Außerdem kam bald Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), der mit dem Credo, das Theater müsse sich am Zweck des Schauspiels und nicht an starren Regeln orientieren, das bürgerliche Theater initiierte3„Über das Theater“ in der Hamburgischen Dramaturgie, Hamburg u. Bremen 1767 u. 1769).

Bürgerliches Theater Dramaka
Bürgerliches Theater (Gronemeyer 1998:96)

Dennoch gilt nach wie vor der Grundsatz, dass der tragische Fall eines Helden umso beispielhafter und eindrücklicher ist, je höher sein sozialer Rang ist.

Mit der Modernisierung des Dramas wandelten sich auch die Themen. Es geht inzwischen kaum mehr um den sozialen als vielmehr um den persönlichen Rang, den persönlichen Status. Dieser vermittelt ebenso die notwendige Fallhöhe in einem Drama.

Arbeiten mit der Fallhöhe

Status

Sowohl in der Improvisation als auch bei der Erarbeitung einer Figur haben wir es mit dem persönlichen Status einer Figur zu tun. Dieser wechselt immer wieder, und das nicht nur nach einer Szene. Es können winzige Momente sein, die einen Status kippen lassen.

Keith Johnstone, Begründer des modernen Improvisationstheaters, schreibt dazu im Rahmen seines Trainings:

„Angenommen, jemand kommt in eine Garderobe und sagt: »Ich hab‘ die Rolle gekriegt«, dann gratulieren ihm zwar alle, fühlen sich aber im Status herabgesetzt. Sagt er: »Sie meinen, ich sei zu alt«, dann be­mitleiden ihn alle, sind jedoch sichtlich erfreut.(…)

Ich bringe den Schauspielern bei, zwischen dem Heben der eigenen Person und dem Senken des Part­ners in aufeinander folgenden Dialogsätzen zu wechseln, und umgekehrt. Sehen wir uns zum Beispiel den Anfang von Molières „Der Arzt wider Wil­len“ an. Die Status-Anmerkungen sind von mir (K. Johnstone).

Sganarell: (Hebt sich selbst.) Nein, sag‘ ich dir, nein, ich will nicht! Ich bin der Herr, und ich tu‘, was mir passt.

Martine: (Senkt Sganarell, hebt sich selbst.) Und ich sag‘ dir, dass du nach meinem Willen zu leben hast, weil ich dich nicht geheiratet hab‘, um deine Narreteien zu er­tragen.

Sganarell: (Senkt Martine.) Ach, es ist bitter, ein Weib zu haben! Der alte Aristoteles hat schon ganz recht, wenn er sagt, dass die Frauen schlimmer sind als die Dämonen.

Martine: (Senkt Sganarell und Aristoteles.) Seht doch die­sen klugen Mann – jetzt kommt er mit seinem blöden Aristoteles daher! Der Teufel soll dich holen, närrischer Tropf!

Sganarell: (Senkt Martine.) Dich soll er holen, du Hexe!

Martine: (Senkt den Hochzeitstag.) Der Tag soll verflucht sein, an dem ich so wahnsinnig war, dir Ja zusagen!

Sganarell: (Senkt den Notar.) Verflucht soll der alte Schwachkopf von einem Notar sein, der mir mein To­desurteil zur Unterschrift hingehalten hat!

Martine: (Hebt sich.) Du willst dich beklagen, du? Jeden Augenblick, den Gott gibt, solltest du auf den Knien danken, dass du mich zur Frau hast. Verdienst du denn so etwas wie mich?4Moliere, Don Juan und andere Stücke, übersetzt von Hans Weigel, Diogenes 1988

Oder man untersucht Witze und analysiert ihre Status-Handlungen. Zum Beispiel:

Gast: He, da ist eine Küchenschabe im Klo!

Ober: Nun, dann müssen Sie eben warten, bis sie fertig ist.“

(Johnstone1997:61-63)

Eine Szene kann sich grundlegend ändern wenn man den Figuren eine andere Motivation/ Haltung unterlegt. In dem Beitrag „Pecking Order Animals“ habe ich dazu einen Workshop aufgezeichnet, der dieses Prinzip verdeutlicht.

Und um Hoch- und Tiefstatus selbst zu üben, empfehle ich die „Einen Raum betreten-Challenge“.

Komik

Im Beitrag „10 Aktionen, die beim Clownsspiel immer funktionieren“ gebe ich ein paar Beispiele für Komik, die auch auf Status bzw. Statuswechseln basieren.

Tiefstatus: (Der Clown) ist meistens am Staunen über all das, was gerade geschieht – mit großen Augen und offenem Mund.

Hochstatus: (Der Clown) wäscht Wäsche oder wischt Staub o.ä.  Sie/ er macht das so ernsthaft, dass sogar die Wäsche des Publikums gewaschen und sogar die Zuschauer gründlich abgestaubt werden.

Wechsel von Hoch- und Tiefstatus: (Der Clown) schlittert in ein Missgeschick. Während sie/ er sich großspurig wieder herrichtet, geschieht die nächste Panne.

Auch die meisten Witze funktionieren über den Status und seinen Bruch:

Loriot 2 Männer im Bad
Herr Müller-Lüdenscheidt und Herr Dr. Klöbener in der Badewanne (Loriot)

Und über den Wechsel von Status:

Donald Trump ist zu seinem ersten Staatsbesuch bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Schnell fragt Trump, was das Geheimnis ihres großen Erfolges ist. Merkel sagt ihm, man müsse nur viele intelligente Leute um sich herum haben. «Wie wissen Sie so schnell, ob jemand intelligent ist?», fragt Trump.

«Lassen Sie es mich demonstrieren.» Sie greift zum Telefon, ruft Wolfgang Schäuble an und stellt ihm eine Frage: «Herr Schäuble, es ist der Sohn ihres Vaters, ist aber nicht ihr Bruder. Wer ist es?» Ohne zu zögern antwortet Schäuble: «Ganz einfach, das bin ich!» «Sehen Sie», sagt Merkel zu Trump, «so teste ich die Intelligenz der Leute.»

Begeistert fliegt Trump nach Hause, er ruft sofort seinen Vize Mike Pence an, um ihm dieselbe Frage zu stellen. «Es ist der Sohn deines Vaters, ist aber nicht dein Bruder. Wer ist es?» Nach langem hin und her sagt Pence: «Ich habe keine Ahnung, ich werde aber versuchen die Antwort bis morgen herauszufinden!» Pence kommt einfach nicht drauf und beschließt, Rat beim ehemaligen Präsidenten Obama einzuholen. Er ruft ihn an: «Mr. Obama, es ist der Sohn ihres Vaters, ist aber nicht ihr Bruder. Wer ist es?» fragt er Obama. «Ganz leicht, das bin ich!»

Glücklich die Antwort gefunden zu haben ruft Pence bei Trump an und sagt triumphierend: «Ich hab die Antwort, es ist Barack Obama!» Trump tobt vor Wut und sagt: «Nein Sie Esel, es ist Wolfgang Schäuble!»

Quellen

  • Fiebach, Joachim, WeltTheaterGeschichte. Eine Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin 2015
  • Fuhrmann, Manfred (Hg.), Aristoteles, Poetik, Reclam-Verlag 1994
  • Grant, Michael/ Hazel, John, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 61989
  • Gronemeyer, Andrea, Schnellkurs Theater, Köln 21998
  • Johnstone, Keith, Improvisation und Theater, Berlin 31997
  • Lessing, Gotthold Ephraim, Hamburgische Dramaturgie, Hamburg und Bremen 1767 + 1769
  • Poloni, Bernhard, Fallhöhe, in: Brauneck, Manfred/ Schneilin, Gerd (Hg. ); Theaterlexikon, 31992, S. 345f.
  • https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/die-attische-tragoedie#
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Dionysoskult

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