Geister im Pflegeheim

Geister im Pflegeheim

Über eine Recherche zum Thema „Pflege“ – meinem derzeitigen Arbeitsbereich – wurde ich auf das Theaterstück „Geister sind auch nur Menschen“ von Katja Brunner und dessen Inszenierungen aufmerksam, das sich mit den Zuständen im Pflegeheim, den BewohnerInnen und Pflegekräften (und Pflegeschwächen, wie es so schön dort heißt) befasst. Das hat mich als Theaterbesessene natürlich sofort interessiert.

Das Thema ist deshalb auch aktuell, weil sich die sehr zahlreichen „Boomer“ (gehöre knapp auch dazu) so langsam der Renten- und sogar Hochbetagten-Grenze nähern. Daher ist es auch interessant, wie das Theater auf diese gesellschaftliche Entwicklung reagiert.

Hier stelle ich das Stück und verschiedene Inszenierungen vor. Ich kenne zwar den Text, nicht aber die Inszenierungen selbst (!), sondern beziehe mich nur auf die Trailer und Mitschnitte auf Youtube. Deshalb kann ich natürlich nur eine eingeschränkte Meinung wiedergeben! Ich finde aber spannend, wie sich im deutschsprachigen Theaterregie-Land die Herangehensweisen oft ähneln, aber dann letztlich doch gravierende Unterschiede aufweisen.

Ursprünglich ist „Geister sind auch nur Menschen“ von Katja Brunner in der edition spoken script (Nr. 41, Luzern und Berlin 2021) erschienen1Auf diese Ausgabe beziehen sich auch die (Seiten-)Zahlen in Klammern.. In dem Verlag werden Texte veröffentlicht, die zunächst für das Vortragen geschrieben wurden oder sich am mündlichen Erzählen orientieren. Es handelt sich also erst mal nicht explizit um einen Theatertext.

Die Schweizer Autorin ist Jahrgang 1991, ihre Texte wurden schon zahlreich übersetzt und an europäischen Bühnen gespielt. Sie schreibt nicht nur, sondern ist auch mit Performances, Videos und Lesungen auf den Bühnen unterwegs.

Der Text

Frau Brunner hat selbst in der Altenpflege gearbeitet, daher kennt sie auch die Gedanken, die die BewohnerInnen umtreiben, die Schwierigkeiten und Malaisen, die sich im hohen Alter einstellen. Manche von ihnen gehen gelassen-melancholisch damit um, andere stemmen sich vehement gegen den augenscheinlichen Verfall. Es handelt sich durchaus um eine Form von biografischem Theater.

Mit ihrem Text gibt sie „eine(r) unbestimmte(n), nicht zu bestimmende(n) Anzahl am Altern Teilnehmender (auch bekannt als: Arsenal der Alten)“ eine Stimme (110). Genau zu identifizieren sind nur Frau Simplon und Frau Heisinger, welche nach einem Schlaganfall jedoch nur noch ihr Inneres sprechen lassen kann. Darüber hinaus gibt es noch diverse Gesprächsgruppen, in denen die anderen Ungenannten ebenfalls zu Wort kommen. Über den teils sarkastischen Stil kann man auch die Pflegekräfte ausmachen.

Ganz besonders ist Brunners Stil, der treibend, direkt und unprätentiös ist. Er nimmt keine Rücksicht auf die verstörende Wirkung der ungefilterten Gedanken von Alten, ihrer sexuellen, suizidalen, aggressiven oder depressiven Verstimmungen, sondern prescht durch die Gedanken, Sorgen und Probleme der alten Menschen hindurch – kurz unterbrochen durch den vermeintlich sachlichen Stil der Pflegenden, der sich letztlich als zynische Kompensation des Pflegealltags entpuppt, und Protokollen von regelmäßigen Gruppensitzungen.

Immer wieder gibt es Passagen in Großbuchstaben. Die meisten Inszenierungen haben diese chorisch sprechen lassen, d.h. mehreren Alten oder Pflegenden in den Mund gelegt. Es wirkt dann, als machten alle die gleichen oder ähnlichen Erfahrungen mit Angehörigen, Medikamenten, Sudoku und mehr.

(In Kürze folgt übrigens auch ein Beitrag über Chorisches Inszenieren).

Was Alte im Inneren bewegen mag bricht sich hier Bahn in fliegenden, bildhaften Texten:

„Er rollt langsam, der Gedanke hat einen defekten Rollator, das denkt man nicht mehr wirklich, man denkt nicht mehr in Sätzen, man denkt Bettflasche, man denkt ein Bild, man versucht auszurechnen wie viele Male man schon eine komplette Zellerneuerung durchgemacht hat, und man kommt auf kein Ergebnis, weil man es doch nicht wissen will, und man wird irgendwie schwerer, je leichter der Körper wird, man holt die Gesichter zurück von den Menschen, mit denen man schlief, und sind einige, aber nicht zu viele, man liebkost sie, man streichelt sie weg, da verfliegen sie, da geht die Tür auf und zu, da kommt ein Essen, da kommen Hände, die führen das Essen ein, da ist ein Mitbewohner, er ist ein Tumor ohne Namen, da schnellt nichts mehr nirgendwohin, da verweilt eine Zeit, die nichts teilt, da kommt kein Sohn, der hat keine Erzeugnisse dabei, man fasst niemanden an und das Träumen ist das Einzige, das lauter wird als die Arbeit des Tumors.“ (192f.)

Die verschiedenen Inszenierungen

Luzerner Theater 2015 UA

Die erste Inszenierung dieses Textes, also die Uraufführung (UA), fand 2015 am Luzerner Theater in der Regie von Heike M. Goetze statt, wo Katja Brunner als Hausautorin diesen Text entwickelt hatte. Text und Inszenierung wurden von der Presse hochgelobt: „Der Hammer“, die Produktion „gleicht einem Exorzismus“.

Ich kenne nur den Trailer auf YouTube und habe sie nicht ganz gesehen! Dort erscheinen mir jedenfalls die Monologe etwas zu angespannt. Meiner Erfahrung nach haben alte Menschen oft wenig Energie, um vehement für eine Sache einzustehen. Und wenn sie es doch tun, dann mit einer schrillen Starrköpfigkeit, von der man sie als Pflegende entweder sanft ablenken will oder vor der man kapituliert. Ich will damit sagen, dass mir die „Alten“ wenig alt erscheinen. Außerdem erscheint mir manches an Bewegungen/ Choreografien und Handlungen zu dekorativ, will heißen, der Text wird in dem Moment illustriert, und die Handlung ergibt in den Fall nicht noch eine weitere Bedeutung über den Text hinaus.

Schauspiel Leipzig 2017 DEA

Da, muss ich sagen, gefällt mir eine so groteske und leicht aggressive Bearbeitung wie vom Schauspiel Leipzig wesentlich besser. Schon der Text selbst ist im Original komprimiert und konzentriert auf kernige Aussagen der BewohnerInnen und Pflegenden, und dem entspricht die Inszenierung von Claudia Bauer sehr gut. Diese war die Deutsche Erstaufführung (DEA) im Jahr 2017.

Kellertheater Winterthur 2018

Die Inszenierung von Regisseurin Doris Strütt (Co-Leiterin des Kellertheaters 2012 – 2020) lässt drei Schauspielerinnen auftreten, die die verschiedenen Rollen übernehmen.Was mir sehr gut gefällt:  Die Gestalten bleiben in der Schwebe zwischen Geistern und Alten.

Das erlaubt den Schauspielerinnen mehr Gestaltungsfreiheit in den Rollen, denn sie müssen sich nicht durchgängig als Alte gerieren, sondern sie sind auch mal spitzzüngige Busmitfahrer oder lassen sich für geglückten Stuhlgang feiern. Man merkt, diese Inszenierung gibt auch Spielraum für die zwangsläufigen Absurditäten im Pflegeheim – sehr passend und gelungen!

Kosmos Theater Wien 2019 ÖEA

In Österreich fand die Erstaufführung (ÖEA) 2019 am Kosmos Theater in Wien statt, das sich als feministisches Haus mit Schwerpunkt auf zeitgenössische Dramatik, Erst- und Uraufführungen sowie auf Kooperationen mit der Freien Szene versteht. Sehr sympathisch!

Die Regie von Barbara Falter spielt mit vielen chorischen und stilisierten Elementen und scheint den Fokus auf die DarstellerInnen und die Textpräsentation sowie die Ensemble-Choreografie zu setzen. Doch hier finde ich die Darstellung zu unemotional, zu manieriert und mit zu viel Spannung in der Sprache.

Damit meine ich nicht, dass eine Inszenierung dieses Textes grundsätzlich naturalistisch zu verlaufen habe, im Gegenteil, aber eine Stilisierung allein zu Verfremdungszwecken entspricht zu sehr dem auch schon enorm stilisierten Text, so dass es zu einer Doppelung kommt, zu einer Dekorierung des Textes. So wird die Inszenierung weder dem Theater noch dem Text gerecht.

Theater Ulm 2023

Am Besten hat mir in den Vorschauen die Inszenierung von Karin Drechsel am Theater Ulm aus diesem Jahr gefallen!

Sie findet starke szenische Bilder für den Text:

Da schiebt sich eine Rollatorwand Richtung Publikum und beklagt das spärliche Engagement der Familie. In ein regelrechtes Ballet der Rollstühle fügt sich der Text immer wieder gekonnt ein.

Die SchauspielerInnen entwickeln aus den Rollen charakteristische Persönlichkeiten, so dass das ganze Geschehen auch in keiner Weise stereotyp, sondern im Gegenteil sehr nachvollziehbar und würdig wird.

Im Pflegeheim

Immer wieder entdecke ich Textpassagen in Katja Brunners Stück, die genau die Lebenswirklichkeiten der Menschen festhalten, mit denen ich viel zu tun habe.

Bevor ich einzelne Auszüge von Katja Brunner zitiere, greife ich (wie so oft) auf William Shakespeare zurück – hier auf einen Aufruf des alten, verwirrten König Lear an seine von ihm zu Unrecht verstoßene Tochter Cordelia:

König Lear

Bitte, mich nicht verspotten:
Ich bin ein närrisch blöder alter Mann,
Achtzig und drüber; kein Stündchen mehr noch weniger;
Und, dass ich’ s recht sag,
Ich fürchte, ich bin nicht ganz bei Verstand.
Mir ist, ich sollt Sie kennen und den Herrn;
Doch weiß ich nicht so recht: denn ich begreif gar nicht,
Wo ich hier bin, und müh mich, wie ich will,
Kenn ich die Kleidung nicht; noch weiß ich, wo
ich letzte Nacht schlief. Lacht nicht über mich;
Denn ich, so wahr ich Mensch bin, denk, die Dame,
Die wär mein Kind Cordelia.
(…)
Sind deine Tränen nass? Ja, wirklich. Bitt dich, nicht weinen:
Wenn du Gift für mich hast, ich will es trinken.
Ich weiß, du liebst mich nicht; denn deine Schwestern,
Erinnert’ s mich, die taten mir viel Unrecht:
Du hast schon Grund, die nicht.

Musst Nachsicht mit mir haben.
Bitt euch, vergesst und vergebt: ich bin alt und närrisch. (IV, 7. Szene)

(Übersetzung: Frank Günther)

Ich bin immer wieder beeindruckt, wie Shakespeare die menschlichen Schwächen, Begierden, Eitelkeiten und Niederlagen in Worte fasst. Wer mehr über „König Lear“, seine Geschichte, Beteiligte und Interpretationen, erfahren will, sei auf den entsprechenden Beitrag verwiesen.

Andere „am Altern Teilnehmende“

Besonders berührt haben mich die folgenden Passagen, die ich so oder sehr ähnlich bei meiner Arbeit im Pflegeheim erlebt habe:

HILFSKRÄFTE

Wir scheitern an den kleinen Dingen

Wir scheitern an den kleinen Dingen

An den kleinen Dingen hängen wir also und scheitern vor uns her

Wir scheitern schon an den kleinsten Dingen

Zeitumstellung zweimal jährlich

Macht eigentlich wenig Unterschied

Eine vorübergehende kulturelle Errungenschaft, die sich verwurzelt hat und hängen geblieben sind die Gewohnheiten an den Wurzeln

Hängen bleiben tun Koalabären, Baldtote und solche Zeitumstellungsrituale

Nägel schneiden hundertunddreimal 20 Nägel ergibt

Zu viele für einmal die Woche

Mit dem Frühstückslieferwagen wieder eine halbe Stunde zu spät (170)


GERIATRIE(SELBSTHILFE)GRUPPE 6

Eigenverantwortung bis Barbara

– Bin ich tatsächlich für mich selbst verantwortlich, wenn ich losgehe und sage: Ich würde bevorzugt mein Frühstück um vierzehn Uhr einnehmen

– Dann ein Ächzen, ein Stirnrunzeln, ein Lächeln wie zu einem debilen Kind, das die eigene Sprache nicht spricht

– DAS GEHT NICHT

– Nein, so geht das nicht, so ist das eine leidige bis unmögliche Sache für Pflegende, jenseits der Möglichkeiten, das darf man nicht einfordern

– Frühstückszeiten umverschieben, wo hier doch Logistik und Personalbetreuung etc. pp. auf Höchststufe laufen müssen, damit es überhaupt ein Frühstück gibt

– Sie und Ihre Familie haben diesen Weg gewählt, da sind Sie selbst verantwortlich

– Na, wenn das so ist, dann bin ich doch auch selbstverantwortlich für meine Grabpflege, wenn es dann so weit ist. Soll ich künftig also selbstverantwortlich einen Lappen neben meinen Grabstein legen und von dort aus putzen, schrubben und pflegen, was das Zeug hält (179f.)


ICH WAR NIE EIN BESONDERS BEGABTES HEIMKIND – SIE FINDEN MICH IM PARK

VERZEIHEN SIE, ich sagte: NACH HAUSE BITTE

Da muss ein Missverständnis vorliegen

BRINGEN SIE MICH BITTE NACH HAUSE

EINFACH EINMAL NACH HAUSE FAHREN HEUTE NACHT, ICH NEHME DEN NACHTZUG, DAS MACHT 15 DEUTSCHE MARK UND EIN PAAR ZUSAMMENGEKAUERTE PFENNIGE

ICH HABE GESPART, JETZT HAB ICH‘ S HIER MIT DABEI. MEINE GESAMMELTEN FAHRTKOSTEN

BRINGEN SIE MICH DOCH SCHLICHT UND ERGREIFEND NACH HAUSE, BEGREIFEN SIE, DASS MEIN STILL GELEGTES HERZ NACH HAUSE MUSS, SONST STIRBT ES GANZ AB (187)

Theater und Pflege

In den letzten Jahrzehnten haben sich immer mehr Formen von Theater etabliert, die aktuelle Themen aufgreifen und auf der Bühne umsetzen. Ich nenne nur Begriffe wie z.B. Dokumentartheater, Biografisches Theater, BürgerInnen- oder Volkstheater. Die Texte zitieren oft die Gruppe, deren Thema behandelt wird.

Mit „Geister sind auch nur Menschen“ haben wir es stattdessen mit einem konzentrierten, stilisierten Text über die inneren und äußeren Zustände im Pflegeheim und seinen Bewohnern und Mitarbeitenden zu tun. Dieser trifft nun auf mehr oder weniger gelungene Inszenierungen.

Was mir in dem Vergleich (wieder) aufgefallen ist:

Theater gelingt tatsächlich dann am besten, wenn es sich auf seine Ur-Qualitäten beruft: Starke Bilder für die Bühne zu finden, die diesem kraftvollen, gehaltvollen Text eine weitere, neue Dimension geben.

Damit wird dem Publikum wirklich ein Anstoß für aktuelle Fragen gegeben.

2 Gedanken zu „Geister im Pflegeheim

  1. Ein interessanter Beitrag zur Sichtbarmachung von dem Alltag in Seniorenresidenzen mit Betreuung. Ich denke dass es wichtig ist der Bevölkerung zu zeigen, wie das Leben der Senioren in Residenzen ist, allerdings sollte man die Situation nicht zu sehr pauschalisieren.

  2. Vielen Dank, der Meinung bin ich auch. Ich freue mich, dass die Pflege langsam einen Platz auf der Bühne findet! Je öfter das passiert, desto differenzierter könnten die vielfältigen Ausprägungen von „Alter“ mit allen seinen Begleiterscheinungen vermittelt und diskutiert werden.

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