Anton Tschechow: Platonov – das Inszenierungskonzept

Anton Tschechow: Platonov – das Inszenierungskonzept

Mit einer Theatergruppe, bestehend aus neun deutsch-, französisch- und russischsprachigen AmateurInnen, habe ich Anton Tschechows Stück „Platonov oder Die Vaterlosen“ in einer eigenen Fassung auf die Bühne gebracht.

Hier berichte ich von den einzelnen Schritten vom Originalstück bis zur Aufführung.

Verortung des Stücks

Im 150. Geburtsjahr von Anton Tschechow 2010 lag es nahe, ein Stück des russischen Schriftstellers zu inszenieren. Der Börsencrash 2008 lag noch nicht lange zurück, sondern war noch im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent und wurde von vielen Bühnen aufgegriffen (vgl. auch den Artikel „Mit Liebe, Toleranz und Widerstand durch die Krise“). „Platonov“, das sich ursprünglich auf einem verfallenen russischen Landgut abspielt, erschien in diesem Zusammenhang als geradezu hochaktuell.

Ich verlegte das russische Landgut auf eine After-Work-Party im Bankenmilieu.

Dort trifft sich eine Gruppe gelangweilter Menschen. Das Geld ist weg, man versitzt die Zeit, beobachtet die Börsenkurse, versucht Schulden einzutreiben und redet aneinander vorbei.

Zentrale Figur ist der Lehrer Michail Vasiljevič Platonov, der sich in Gesellschaft gerne als geistreicher Unterhalter gibt. Doch mit der Liebe von gleich vier Frauen ist Platonov überfordert. Er kann und will keine Entscheidung treffen.

Schließlich verkommen jedwege Illusionen dieser Partygesellschaft, die Kurse fallen, und mit den ökonomischen Verfallserscheinungen zeigt sich auch zunehmend das menschliche Chaos einer Gesellschaft in Auflösung.

Die Figuren

Zunächst galt es, die 21 Rollen auf die neun Darstellenden aufzuteilen. Die Streichung bzw. Zusammenlegung von Rollen und die Kürzung des 246 Seiten langen Manuskripts (Anton Cechov, Platonov, Ausgabe Diogenes Verlag, Frankfurt a.M. 1995, Übersetzung: Peter Urban) auf zum Schluss 40 Seiten war eine Aufgabe, die während der ganzen Probenzeit weiterlief. Es gab also immer aktualisierte Fassungen – je nachdem, wie sich die Geschichte besser erzählte.

Schließlich hatte ich die neun wichtigsten Figuren mit ihren entsprechenden Berufen herausgearbeitet:

  1. Anna Petrovna Vojniceva, Gastgeberin, junge Witwe, Bergwerksbesitzerin, „die Generalin“
  2. Nikolaj Ivanovic Trileckij,  Schönheitschirurg, Bruder von Saša Ivanovna
  3. Michail Vasiljevic Platonov, Lehrer, Ehemann von Saša Ivanovna
  4. Aleksandra Ivanovna (Saša), Ehefrau von Platonov, Schwester von Nikolaj Ivanyč
  5. Sergej Pavlovič Vojnicev, Sohn des Unternehmers Vojnicevs aus erster Ehe, Stiefsohn von Anna Petrovna, Ehemann von Sofja Egorovna
  6. Gerasim Kuzmič Petrin, Handelsreisender
  7. Marja Efimovna Grekova, Chemikerin
  8. Osip, Dieb
  9. Sofja Egorovna, Ehefrau von Sergej Pavlovič

Transkription der Rollennamen

Transkriptionen der Namen für die korrekte Aussprache

1. Das Leerzeichen + ‚-Zeichen vor dem Vokal zeigen die Betonung im Wort

2. Das ‚-Zeichen nach dem Konsonanten weisen auf die Weichheit des Konsonanten

ANNA PETROVNA VOJNICEVA[ 'ana] [pitr 'ovna] [vajn 'itseva]
NIKOLAJ IVANOVIC TRILECKIJ[nikal 'aj] [iv 'anavitsch] [tril 'etskij]
MICHAIL VASILJEVIC PLATONOV[miha 'il] [vas 'ilitsch] [plat 'onaf]
ALEKSANDRA IVANOVNA (Saša)[aliks 'andra] [iv 'anavna]
SERGEJ PAVLOVIC VOJNICEV[sirg 'ej] [p'avlavitsch] [vajn 'itsef]
GERASIM KUZMIC PETRIN[ger 'asim] [kuz'mitsch] [p 'etrin]
MARJA EFIMOVNA GREKOVA[mar 'ija] [if 'imavna] [gr 'ekava]
OSIP[ 'osip]
SOFJA EGOROVNA[s 'of'ja] [ig 'oravna]

Besetzung und Rollenfindung

Die Besetzung haben die Teilnehmenden nach einer Besprechung über die Bedeutung der Figuren im Stück weitgehend selbst bestimmt – es ging darum, wer sich mit welcher Figur am besten identifizieren kann, aber auch, wer bereit ist, viel oder weniger Text zu lernen oder an allen Proben zuverlässig anwesend sein kann oder eher nicht.

Zur Rollenfindung selbst haben alle eine Selbstbeschreibung verfasst, eine sog. Rollenbiografie, um sich in die Figur besser hinein versetzen zu können.

Die Generalin

Zur Unterstützung habe ich teilweise Bildmaterial zur Verfügung gestellt, hier z. B. für die Generalin, die die Gäste auf ihrem Gut empfängt:

Vergleich Anna Petrovna - Königin Elisabeth

Platonov

Oder für Platonov, den eine quälende Langeweile erfasst:

Auszug aus der Inszenierung „Platonow“ von Luk Perceval an der Schaubühne Berlin 2006 (DVD).

Vergleich Fellini – Tschechow

Über die Recherche kamen wir auch auf Frederico Fellinis Film „8 1/2“. Gemeinsam haben wir uns den Film angeschaut und daraufhin einen Vergleich  angestellt zwischen den Protagonisten unseres „Platonov“ von Tschechow und „Guido“. Auch dies sollte mehr Verständnis für die Figur herstellen (für den Darsteller selbst, aber auch für alle, die mit ihr zu tun haben).

Das war damals sehr aufschlussreich zur Rollenfindung, also ein weiterer Baustein zum Stück.

Vergleich der Hauptfiguren aus Frederico Fellini 8 1/2 und Anton Tschechow Platonov.

Alle

Am Ende ist das Gut verzockt, die Liebenden ohne Hoffnung.

Vierter Akt Platonov Dramaka

Verbindungen der Figuren untereinander

Wie stehen die Figuren zueinander, in welcher Beziehung befinden sie sich? Das war die nächste Frage. Die Verbindungen untereinander sind etwas kompliziert, daher habe ich eine Skizze erstellt:

Verbindungen Platonov Inszenierung Dramaka

Die Bühne

Das Stück kommt im ersten Teil vor der Pause mit wenigen Auf- und Abgängen aus, denn alle Darstellenden befinden sich weitgehend auf der Bühne, weil es sich um eine Party handelt. Für kurze Abgänge gibt es  einen hinteren Garten, in dem man die Figuren weiterhin schatten-/schemenhaft erkennen kann. Wer den Raum verlässt, kann seitlich auf- und abgehen.

Im zweiten Teil sind ebenfalls alle weitgehend auf der Bühne, denn sie hängen nach der exzessiven Party irgendwo rum und wachen für ihren Auftritt auf.

Bühne Platonov dramaka

Gruppen-Improvisationen

Aus dieser Bühnenkonstellation ergab sich die erste Vorarbeit für die Inszenierung:

Die Erarbeitung einer Party-Situation

Es musste Folgendes gewährleistet sein:

  • Jede/ r Darstellende hat immer etwas zu tun, d.h. ein Gespräch mit jemandem führen, ein Getränk eingießen, sich das Gesicht nachschminken, telefonieren, SMS schreiben, einen Witz erzählen, Fotos machen, Fotos zeigen, sich den Garten ansehen…
  • Diese an sich großen Handlungen müssen trotzdem grundsätzlich leise und langsam vor sich gehen, denn währenddessen spielen sich im Vordergrund wechselnde Szenen zwischen den jeweiligen Protagonisten ab. Auf diese muss die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt sein unabhängig von den Aktionen im Hintergrund.
  • Gleichzeitig muss die Aufmerksamkeit der Spielenden auf der Bühne ebenfalls diesen Szenen gelten, damit der eigene Einsatz rechtzeitig kommen kann. Es gibt also zwei Punkte der Konzentration1Zu den „Punkten der Konzentration“ siehe auch: Viola Spolin, Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater, Paderborn 51997: Partygeschehen und Einzelszenen gleichzeitig.

Schattenspiel und Feuerwerk

Ein besondere Szene war in dem Stück der Höhepunkt der Party, das Feuerwerk. Da es nicht so einfach ist, über lange Zeit gute Laune an den Tag zu legen, hatte ich diese Szene mit einer Art „Foto-Übung“ vorbereitet.

Auf die Leinwand wurde das Feuerwerk projiziert, und die Szene beginnt mit allen Beteiligten vorn. Später verlagert sich das Geschehen hinter den Vorhang, auf dem weiterhin das Feuerwerk und dann auch die Schatten der Feiernden zu sehen sind.

Vorn ist es wichtig, dass die Feier mit großen Gesten, vielen Rufen, Anstoßen, Gelächter, Jubel vonstatten geht. Mit der Foto-Übung („Foto!“) konnten die Bewegungen größer und klarer gemacht werden. Die Party-Szene an der Rampe war schließlich ein fließender Wechsel der verschiedenen Foto-Standbilder.

Die Probe hinter dem Vorhang: Wir haben ausprobiert und gegenseitig rückgemeldet, welche Bewegungen hinter dem Vorhang besonders gut funktionieren, um ein rauschendes Fest zu simulieren, während sich vorn auf dem Vorhang das Feuerwerk abspielte. Währenddessen selbstverständlich weiterhin große Ausrufe des Staunens und der Verzückung!

Schattenspiel 2 Platonov Dramaka Inszenierung
Probe hinter dem Vorhang

Szenenarbeit

Nach diesen grundlegenden Vorarbeiten befasste sich die Szenenarbeit mit vielen kleinen einzelnen Abschnitten des Stücks, um jeweils ein Gefühl für die entsprechende Stimmung zu bekommen. Erst gegen Ende der Proben wurden die Teile zusammen gesetzt.

Improszenen ohne Text (Beispiele)

„Ohne Text“ bedeutet, den Text durchaus gelesen zu haben, aber er muss nicht wortgetreu wiedergegeben werden. Die Szene soll in etwa wie beschrieben verlaufen. Dies dient der Annäherung an die Szene, ohne zu sehr vom Text in Anspruch genommen zu werden.

Thema: Liebe und Langeweile (2 P.)
2. Akt, 1. Bild, Auftritt IX, ab. S. 98

Die aufrichtige Maria liebt Platonov. Der betrachtet dies amüsiert, aber distanziert, er macht sich sogar lustig. Die Annäherungsversuche von Maria werden immer drängender und verzweifelter.


Thema: Die Welt jenseits von Geld und Langeweile (2 – 4 P.)
1. Akt, Auftritt XVI, ab S. 58

Osip ist ein einfacher, aber aufrichtiger Dieb. Die anderen (die Reichen und Schönen) betrachten (= befragen/ beschreiben) ihn mit Bewunderung und Verachtung gleichermaßen.


Thema: Verdrängung (3 P.)
Mischung aus: 2. Akt, 1. Bild, Auftritt XIII, ab S. 110
2. Akt, 2. Bild, Auftritt VI, ab S. 144
3. Akt, Auftritt V, ab S. 180
Sasa: 2. Akt, 2. Bild, Auftritt II + III, ab S. 132

Gutsbesitzerin Anna Petrovna versucht Platonov heimlich davon zu überzeugen, mit ihr wegzufahren von dem Gut, von den Leuten. Plantonov ist unentschlossen. Saša, Platonovs Ehefrau, versucht gleichzeitig, wegzuhören, während sie sich beschäftigt und immer wieder dazwischengeht.

Einzelszenen mit Text (Beispiele)

Alle Szenen konnten und sollten auch mit muttersprachlichem Text (französisch, russisch) gefüllt werden. Es hat sich herausgestellt, dass auch das ziemlich genau „geplant“ werden muss, da das Umschalten zwischen den Sprachen nicht immer spontan erfolgen kann.

Anna Petrovna, Trileckij

1. Akt, Auftritt I, S, 9f.

Anna Petrovna sitzt am Flügel, den Kopf auf die Tastatur gelehnt. Auftritt Nikolaj Ivanovic Trileckij.

Trileckij geht auf Anna Petrovna zu Ist was?

Anna Petrovna hebt den Kopf Nein… Ich langweile mich…

Trileckij Mon ange, geben Sie mir etwas zu rauchen! Das schwache Fleisch will schrecklich gern rauchen. Seit heute mor­gen habe ich irgendwie noch nicht geraucht.

Anna Petrovna gibt ihm die Zigaretten Nehmen Sie gleich mehrere, damit Sie mich nicht später wieder belästigen.

Sie stecken sich Zigaretten an.

Ich langweile mich, Nicolas! Trübsinn, keine Arbeit, dumme Gedanken… Und was ich tun soll, weiß ich nicht…

Trileckij nimmt sie bei der Hand.

Anna Petrovna Wollen Sie mir den Puls fühlen? Ich bin ge­sund …

Trileckij Nein, nicht den Puls… Abknutschen will ich sie…

Küsst ihr die Hand.

Ihre Hand küsst sich wie ein Samtkissen… Womit waschen Sie Ihre Hände, dass sie so weiß sind? Wunderhübsche Hände! Ich muss sie noch mal küssen.


Platonov, Maria Grekova

1. Akt, Auftritt X, S. 40f.

Platonov Was macht Ihr Wanzenäther, Marja Efimovna?

Grekova Was für Äther?

Platonov Ich hörte, Sie gewinnen Äther aus Wanzen… Wollen die Wissenschaft bereichern… Ein gutes Werk!

Grekova Sie mit Ihren Witzen…

Platonov Wie rosig Sie aussehen! Muss Ihnen heiß sein!

Grekova steht auf Wozu sagen Sie mir das alles?

Platonov Ich will mit Ihnen reden… So lange haben wir uns nicht mehr unterhalten. Warum denn böse sein? Wann end­lich werden Sie aufhören, mir böse zu sein?

Grekova Ich weiß nicht, was Sie an mir stört, aber… Ich tue Ihnen den Gefallen und gehe Ihnen nach Möglichkeit aus dem Wege… Wenn mir Nikolaj Ivanyč nicht sein Ehrenwort gegeben hätte, dass Sie nicht hier sein würden, so wäre ich nicht hierher­gekommen…

Platonov Sie fangen ja gleich an zu weinen… Weinen Sie nur! Tränen bringen zuweilen Erleichterung…

Die Grekova geht schnell zur Tür, wo sie auf Anna Petrovna stößt.


Petrin telefoniert mit seinem Sohn.

1. Akt XIV

PETRIN Kirill? (zu allen) Mein Sohn! Er ist im Ausland!

Du Kirill…bist zurück? Wie? Was soll was? Warum ich dir kein Geld geschickt – Darüber sprechen wir zu Hause. Nein, ich will keinen Streit. Ich kann jetzt nicht so reden, ich bin nicht alleine. Ich sagte doch, wir sprechen zu Hause darüber.

Nun mach keinen Skandal, Kirill! Ich dachte, sechzigtausend würden… (leiser) Ich dachte, sechzigtausend wären genug! Jetzt beruhige dich!

Ich…ich werde nicht rot. Wieso sollte ich? Nein, ich schäme mich nicht! Dazu habe ich nicht den geringsten Grund. Ich… Wie? Aber… Kirill! Schluss jetzt! Darüber sprechen wir zu Hause! Ja. Ja, wir werden sehen.

Endfassung

Platonov_Endfassung als Text.

Platonov_KlappeAuf Dramaka

 

Hier gibt es noch ein weiteres Inszenierungskonzept von mir : Tennessee Williams, Endstation Sehnsucht.

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