Authentizität – ein neuer Aspekt für einen alten Begriff
Über den Begriff Authentizität ist schon viel geschrieben worden, doch mir fehlt ein wichtiger Aspekt dabei, den ich hier ergänzen möchte.
Im Laufe eines Tages übernehmen wir die verschiedensten Rollen, je nach Situation und Umgebung. Besonders bei bestimmten Redeanlässen vor Publikum wird das deutlich.
Wie viel von meiner eigentlichen Person steckt dabei noch in meiner Selbstdarstellung? Ist eine Präsentation nicht grundsätzlich eine permanente Verstellung meiner selbst? Oder aber muss das überhaupt kein Widerspruch sein?
Wann nun die Übereinstimmung von Rolle und Persönlichkeit gelingt, wann also der eigene Auftritt authentisch wird, zeigt dieser Beitrag.
Im Theater beispielsweise verlangte Konstantin S. Stanislawski (1863 – 1938) die detailgenaue Rekonstruktion der Wirklichkeit. Wirklichkeitstreue und Lebensechtheit des Spiels sollten durch Nachahmung und Einbringen eigener Erfahrungen garantiert werden. Doch er war nicht zufrieden:
„Und was bekommt er (der Zuschauer) in den meisten Fällen von uns? Vor allem großes Hin- und Herlaufen, unzählige unbeherrschte Gesten, nervöse, mechanische Bewegungen. Damit sind wir auf dem Theater unvergleichlich freigebiger als im wirklichen Leben. Diese schauspielerhaften Handlungen sind aber ganz anders als die Handlungen des Menschen im wirklichen Leben. (…) Auf der Bühne handeln die Schauspieler anders. In intimen Augenblicken des Lebens kommen sie nach vorn, wenden sich an die Zuschauer und deklamieren laut, effektvoll, pathetisch über ihre nicht vorhandenen Erlebnisse. (…) Die Gedanken und Gefühle, um derentwillen das Stück geschrieben wurde, kann man bei solchem Spiel nur „allgemein“ traurig, „allgemein“ lustig, „allgemein“ tragisch, „allgemein“ hoffnungslos und so weiter darstellen. Diese Darstellungsweise ist leblos, formal, handwerklich.“
Konstantin S. Stanislawski: „Vorgeschlagene Situationen“, in: Stegemann, Bernd (Hg.) Stanislawski-Reader. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle, Berlin 2007, S. 39f.
Als authentisch gilt im Zuge dieses Subjektverständnisses seit dem 18. Jhd. eine Person, die anderen und sich selbst gegenüber „echt“, „wahrhaftig“ ist und mit sich selbst übereinstimmt. In diesem Verständnis beschreibt Authentizität das Verhältnis des inneren Kerns einer Person zu einem nach außen vermittelnden Ausdruck. Anders gesagt geht es um die Übereinstimmung von Denken/ Fühlen und Handeln. Dieses ist auch heute noch in vielen Kursen Standard (vgl. auch den Wikipedia-Eintrag zum Thema Authentizität).
Doch hier kommt mir ein Aspekt bei der Debatte um Authentizität immer zu kurz, und auch hier hilft die Schauspielerei:
Um authentisch, d.h. „seiner Rolle gemäß“, echt und wahrhaftig zu sein, bedarf es auch der Betrachtung der jeweiligen Situation, also des „Blicks von außen“ auf das Geschehen. Nur so ist es möglich, angemessen und wahrhaftig aus dem Moment heraus zu agieren, statt sich den eigenen Launen hinzugeben. Auch ein Schauspieler hat, so vertieft er auch in sein Spiel ist, doch immer die ganze Bühne im Blick.
So komme ich zurück auf meinen Eingangssatz: Wir übernehmen die verschiedensten Rollen, je nach Situation und Umgebung.
Dabei nach innen zu fühlen und danach nach außen zu agieren, ohne das äußere Geschehen zu vernachlässigen, das ist wahre Authentizität.