Augusto Boal und seine Theaterformen

Augusto Boal und seine Theaterformen

In meinen Kursen zum systemischen Teamcoaching nutze ich vor allem die Methoden Statuen- und Forumtheater. Doch woher stammen diese beiden Vorgehensweisen? In diesem Beitrag stelle ich den brasilianischen Gründer Augusto Boal und sein komplexes Theaterwerk genauer vor.

Das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal

Der Name „Theater der Unterdrückten“ leitet sich direkt von seiner Entstehungsgeschichte in Brasilien ab und behandelt insbesondere die Themen der benachteiligten Bevölkerungsschichten.

Zunächst aber zur Biografie Augusto Boals. Ich denke, das ist wichtig, um die Zusammenhänge in der Entwicklung der Theaterformen besser zu verstehen.

Biografie

Augusto Boal, geboren am 16. März 1931 in Rio de Janeiro, war Theaterpädagoge, Regisseur und Theaterreformer.

Von 1953 bis 1955 absolvierte er ein Studium der Chemie und Theaterwissenschaften in New York und übernahm von 1956 bis 1971 die Leitung des Teatro de Arena de Sao Paulo. Dort wurde ein neues Volkstheater‐Konzept entwickelt, das bald in ganz Lateinamerika von sich reden machte.

In der von Boal gegründeten Theaterschule wurden in Kollektivarbeit Stücke geschrieben und geprobt, die sich an diejenigen richteten, die im Elend lebten. Die Gruppe spielte diese Stücke in den Dörfern, vor Analphabeten, in den Slums der Städte.

Darüber hinaus entwickelte er neue Darstellungstechniken, die die Zuschauer/ -innen aus ihrer passiven Haltung befreiten und sie selber zu Handelnden machten.

1971, zur Zeit der Militärregierung, in der nur ausgewählte Stücke erlaubt waren, wurde Boal verhaftet. Nach seiner Entlassung musste er Brasilien verlassen und kehrte erst 1986 – nach einem Referendum, in dem die Bevölkerung Brasiliens die Republik (statt Monarchie) mit präsidialem Regierungssystem als Staatsform  gewählt hatte – wieder zurück.

In seiner Zeit als Stadtrat von Rio de Janeiro von 1991 bis 1996 entwickelte er eine Form des Legislativen Theaters, mit dem die Anliegen des Volkes direkt im Parlament aufgezeigt wurden.

Die UNESCO zeichnete Augusto Boal im Jahr 1994 für seine Arbeit mit der „Pablo‐Picasso‐ Medaille“ aus, und die Universität Nebraska verlieh ihm 1996 die  Ehrendoktorwürde. 2007 war Boal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden.

Er lebte in Brasilien und Großbritannien und starb im Mai 2009.

Wozu Theater? Das Theaterverständnis Augusto Boals

Theater hat nach Boals Verständnis hehre Ziele:

  • die Beeinflussung der Gesellschaft
  • die Humanisierung der Menschheit
  • die Selbstfindung der Menschen

Der Zuschauer/ die Zuschauerin, das passive Wesen, das Objekt, soll zum Protagonisten der Handlung, zum Subjekt werden. Ebenso soll sich das Theater nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern ebenso mit der Zukunft.

„Schluss mit einem Theater, das die Realität nur interpretiert, es ist an der Zeit, sie zu verändern!“ (Boal 1989:68)

Das Theater der Unterdrückten: Theaterformen

Theater ist für das Volk, wenn es die Welt aus der Perspektive des Volkes sieht. (…) Diese Perspektive macht deutlich, dass  Menschen, die durch Arbeit, Gewohnheiten, Traditionen versklavt wurden,  ihre Situation ändern können. Alles befindet sich in Veränderung. Diese  Veränderung gilt es voranzutreiben. (Boal 1989:17)

Das Theater der Unterdrückten wurde 1994 von der UNESCO als Method of Social Change anerkannt.

Kennzeichnend für alle Formen ist, dass das Publikum aktiv in die Szenengestaltung einbezogen wird, die Trennung von Spielern und Zuschauern/ Spielerinnen und Zuschauerinnen ist damit aufgehoben.

Ziel ist es:

  • Unterdrückungsverhältnisse sichtbar zu machen
  • Lösungsstrategien gemeinsam mit dem Publikum zu entwickeln

Konkret handelt es sich um folgende Theatermethoden:

Statuentheater

Standbilder

Kennzeichen des Statuentheaters ist die Stilisierung des Geschehens durch Unterbrechung der Abläufe in Raum und Zeit. Statuentheater ist als „Standbild-Methode“ weit verbreitet, wird häufig jedoch ohne den sozialpolitischen Überbau seiner Entstehung praktiziert.

Der Körper wird beim Statuen- oder Bildertheater wie beim Bildhauer der Stein oder beim Töpfer der Ton zum lebendigen Material der Gestaltung. Es entstehen Standbilder, die zeigen, wie die Welt persönlich erlebt wird.

Aus den Statuen und Bildern können mit Gegenbildern, Folgebildern und/oder Vor-Bildern klarere Ver­läufe aufgezeigt werden: In einer Folge von Bildern kann ein/e Teilnehmerin auch versuchen, den „Fall“ zu klären, Verhaltensweisen zu entschlüsseln. In Zeit­lupe oder im Zeitraffer kann ein Verlauf in seiner Struktur verdeutlicht werden. Zu den Statuen und Bildern können die Teilnehmerinnen ihre Assoziationen äußern, den Figuren Sätze „in den Mund legen“ und offene Fragen stel­len.

Das „Freezing“ im Statuentheater verdichtet Handlungen, Beziehungen und soziale Haltungen auf eindeutige Gesten (Körperhaltungen) und Beziehungsstrukturen (Blickrichtungen, Position der Figuren zueinander).

Real-, Ideal- und Übergangsbild

Die Methode „Statuentheater“ in ihrer ursprünglichen Form basiert auf zwei aus den Teilnehmerinnen selbst gestellten „Bildern“: Das Real- bzw. Ausgangsbild (i.d.R. eine Situation der Unterdrückung) sowie das Idealbild der Befreiung/der Utopie.

Nach einer Diskussion in der Gruppe oder aber auch in freier Improvisation (Übergangsbild) „bewegt“ sich schließlich das gemeinsame Ausgangsbild in das Bild der Befreiung.

Die gewünschte Handlung in der Realität wird hiermit durch das fiktive Handeln auf der Bühne konkret, sinnlich und damit erlebbar vorweggenommen – dies kann dazu beitragen, sich Konfliktsituationen bewusst zu machen und handlungsorientierte Lösungen zu finden.

Wenn das Statuentheater unabhängig von seinem politischen Hintergrund für die Theaterarbeit angewendet wird, hilft es außerordentlich, Szenen zu strukturieren und ausdrucksstarke Haltungen zu entwickeln.

Beide Methoden sind auch sehr gut für Teams geeignet (vgl. den Beitrag Theatermethoden für die Teamentwicklung).

Forumtheater

Augusto Boal leitet eine Forumtheater-Sitzung Dramaka

Beim Forumtheater handelt es sich um Mitspieltheater mit einem bestimmten Ablauf.

Zuerst wird eine kurze Szene vorgestellt. Sie beinhaltet eine Alltagssituation mit einem Opfer, einer/m Täterin und möglichen Bündnispartnerinnen des Opfers. Man kann Forumtheaterszenen zu allen möglichen Konfliktthemen herstellen: Landlose – Landbesitzer, Arbeit – Kapital, Rassismus, Sexismus, Mobbing im Betrieb, Gestal­tung des Stadtteils – alles ist möglich.

Es agieren mindestens drei Personen: Protagonist (Opfer), Antagonist (Täter) und mindestens eine dritte Person, der oder die Ambivalente, eine Person, die dem Opfer in der Realszene nicht beisteht, die aber möglicher Bündnispartner für das Opfer ist.

Die Szene endet mit einer unbefriedigenden Lösung, um die Diskussion anzuregen.

Im Verlauf der Forumtheateraktion (i.d.R. moderiert von einem sog. „Joker“) wird sie von den Zuschauenden durch das Eintauschen bzw. Ersetzen von Personen verändert, die sich anders verhalten als in der Ursprungsszene. Die Personen, die sich eintauschen möchten, sagen: „Stopp!“ und ersetzen den Protagonisten, später auch den Antagonisten oder die ambivalenten Personen des Stückes.

Ziel des Forumtheaters ist es, mög­lichst viele verschiedene Varianten von besseren Lösungen der in der Ausgangsszene vorgestellten Kon­fliktsituation zu finden in Richtung einer „Idealszene“.

Indem eine sog. „Zu-Schauspielerin“ die Bühne betritt und die Real­szene durch ihre Aktionen verändert hin zu ihrer persönlichen Idealszene für die gegebene Situation, entsteht eine neue von vielen Möglichkeiten zur Verände­rung. In diesem Raum kann erprobt werden, sich ideal zu verhalten, zum Beispiel sich zu wehren, anstatt eine Unterdrückungs­situation zu ertragen. Die „Katharsis“ wird nicht wie im griechischen Theater durch Anschauen der Stücke, sondern durch aktives Verändern der Realität erzeugt.

In der abschließenden Forumdiskus­sion wird diskutiert, welche Lösungen warum die besten waren.

„Forumtheater und die anderen Volkstheater-Formen wecken im Zuschauer den Wunsch, in die Wirklichkeit umzusetzen, was im Theater geprobt wurde.
(Boal 1989, 58)

Seit den 90er Jahren entwickelte Boal für Europa seine Methode in Richtung eines introspektiven Theaters weiter. Da es in europäischen Gesellschaften weniger gilt, eine äußere Diktatur zu bewältigen als mehr innere Kämpfe auszufechten, wurden mehr theatertherapeutische Elemente Teil seines Programms, mit dem innere Blockaden abgebaut wurden. Dies firmiert seitdem unter dem Begriff „Regenbogen der Wünsche“.

Quellen und Literaturhinweise

  • Axter, Melanie, Das Theater der Unterdrückten Augusto Boals und seine Präsentation in der Gegenwart, Stuttgart 2001
  • Boal, Augusto, Theater der Unterdrückten. Übungen und
    Spiele für Schauspieler und Nichtschauspieler, Frankfurt a.M. 101989
  • Boal, Augusto, Der Regenbogen der Wünsche, Seelze 1999
  • Legislative Theatre. Using Performance to Make Politics, Routledge Chapman & Hall 1998
  • Odierna, Simone/ Letsch, Fritz, Theater macht Politik, Neu-Ulm 2006
  • Scheller, Ingo, Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis, Berlin 1998
  • Vlcek, Radim, Workshop Improvisationstheater. Übungs- und Spielesammlung für Theaterarbeit, Ausdrucksfindung und Gruppendynamik, Donauwörth 2003

Tipp!

Simone Odierna und Janina Woll haben im Verlag AG Spak Bücher 2021 einen neuen Band über die Anwendungs- und Wirkungsweisen von Augusto Boals Theater herausgebracht:

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