Handbuch für Freies Theater – Buchvorstellung
Hier möchte ich ein Buch vorstellen, das mich in den Anfängen meiner Off-Theater-Zeit in den 90er Jahren intensiv und zuverlässig begleitet hat.
Frisch zurück aus Italien, noch ganz beseelt von den Straßentheater-Erfahrungen in der Lombardei, die ich als Teilnehmende eines Kurses gemacht hatte, beschloss ich, in Berlin eine Frauen-Straßentheater-Gruppe zu gründen.
Nur Frauen? Logo. Straßentheater? Unbedingt. Die begeisterten und erwartungsvollen Mitstreiterinnen waren schnell gefunden. Doch wie starten?
Wie mir das „Handbuch für Freies Theater“ in die Hände fiel, weiß ich nicht mehr. Aber von Beginn an hat mich gefesselt, mit welcher Begeisterung, Fachkenntnis und mit wie vielen Ideen die beiden Autoren über den Aufbau einer Freien Theatergruppe schrieben und Tipps, Übungen und wichtige Überlegungen für Leute beisteuerten, die erst mal nichts als die Idee hatten.
Dieses Buch ist für die, die es brauchen. Wer glaubt, ohnehin Bescheid zu wissen, und das vielleicht auch schon ausprobiert hat, braucht es vermutlich nicht. Die Informationen, die wir hier zusammengetragen haben, sind für die bestimmt, die noch nicht Bescheid wissen. (S.9)
1977 gründeten Michael Batz und Horst Schroth das „Theater zwischen Tür und Angel“ in Hamburg und spielten vorwiegend Straßentheater. Aus den vielen Kursen, die sie seitdem gegeben hatten, ist ihr Buch entstanden – erschienen 1983 im Rowohlt-Verlag.
Einige grundsätzliche Überlegungen dazu, was Freies Theater überhaupt ist, leiten das Buch ein:
„Das Selbstverständnis des Freien Theaters hat keine endgültigen Konturen, zum Teil wird noch heftig darum gestritten. Immer deutlicher jedoch stellen sich einige Kriterien heraus, die unbedingt zum Maßstab dieses Theaters gehören:
Identität: Die Entscheidung zum Theatermachen ist radikal persönlich. Wer dieses Theater will, sucht Antworten auf Fragen seines Lebens. Zugehörigkeit zu einem Berufsverband oder Marktchancen sind dabei zweitrangig.
Sozialer Kontext: Freies Theater braucht unmittelbare Teilnahme an dem, was in der Gesellschaft passiert, und Zeitgenossenschaft. Es ist besonders da stark und lebendig, wo es nicht die Tradition oder die Allgemeinheit, sondern Gabi und Claudia, Hans und Hugo vertritt, hier und heute.
Öffentlichkeit: Freies Theater schafft seine eigene Öffentlichkeit und ist damit keineswegs an feste Räume oder Spielstätten gebunden. Es lässt sein Publikum nicht bloß kommen, es geht zu seinem Publikum hin, dort wo es lebt und arbeitet.
Publikum: Die Zuschauer bleiben kein diffuser Gattungsbegriff. Soweit es geht, wird direkter Kontakt hergestellt. Entscheidend dabei sind klare Antworten auf die Grundfragen: Wer spielt hier überhaupt und in wessen Namen? Worum geht es eigentlich? Wer genau ist gemeint? Was soll passieren?
Selbstbestimmung: Das Freie Theater arbeitet nach Möglichkeit ohne Hierarchie und Arbeitsteilung. Alle Belange (Inhalte wie Management) werden, soweit es geht, gemeinsam vertreten. Seine Ziele setzt es selbst.
Qualität: Die richtige Gesinnung ersetzt nicht Verantwortung im Handwerklichen und die produktive Auseinandersetzung mit Formen und Traditionen. Dies besonders, wenn es nicht um einmalige Betroffenheit geht, sondern um die Bedeutung und die Realität – Widerspruch: Protest ist kein Selbstzweck (auch nicht im Bereich experimenteller Kunst), sondern auf die Entdeckung des Neuen und Anderen gerichtet. In diesem Sinne ist dieses Theater abweichend, offen und ein Stück Konfliktkultur.“ (S. 21)
Damit konnten wir uns alle identifizieren, und so stürzten wir uns in die Proben!
Zuvor mussten wir aber noch „alles vergessen, was wir vom Theater zu wissen glaubten“ (S. 25). Vieles kannten wir aus eigenen Schulaufführungen oder Theaterbesuchen von „klassischen“ Stücken. Aber das kann sich auch ganz anders gestalten, denn alles ist Theater, das habe ich hier auch schon in vielen Beiträgen gezeigt.
Zuerst fing es ganz harmlos an:
1. Erster Schritt: beobachten, Leute imitieren, sich verkleiden, recherchieren, ausprobieren, proben, immer im Hinblick auf ein öffentliches Publikum.
2. Zur Gruppe werden, sich über Inhalte und Themen klar werden:
(hier Beispiele von S. 136)
Personen: aus der Realität, aus Comics, Romanen, Filmen, Politik, Internationale Organisationen, Banken, Showbusiness, Sport, Musik, Untergrund
Situationen: Geburt, Tod, Liebe, Karriere, Sturz, Verkaufen, Entdecken, Bedrohen, Befreien, Altern, Kranksein
Emotionen: Liebe, Freude, Angst, Haß, Eifersucht, Ohnmacht, Lähmung, Lethargie, Aufbruch
Probleme: Eltern-Kinder, Lehrer-Schüler, Polizei-Punks, Umweltverschmutzung, Rüstung, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen, Großstadt, Hunger, Sex
Fantasien: Allmacht, Star sein, Weltveränderung, Utopie, Reisen, neue Gesellschaft, Weltuntergang, surrealistische Bilder, reich sein, Schönheit
Die im Buch beschriebenen Übungen sowohl zum Kennenlernen als auch zu bestimmten Schwerpunkten haben wir alle (mit Wonne!) durchexerziert!
3. Dann folgten sog. Werkstätten, bestimmte Themen forderten uns dann an manchen Wochenenden intensiver:
Körper: Boden, Fallen und stürzen, getragen werden, Bewegung(sformen), Imagination, Ausdruck, Improvisation (hier fallen Begriffe wie Sketch, Stegreifspiel, Gestentheater (Pantomime). Im Beitrag zur täglichen Improvisation finden sich ganz ähnliche Übungen.
4. Offene Werkstatt: Draußen proben, erste Reaktionen erfahren und aushalten.
5. Dann ging es an die ersten Aufführungen. Batz/Schroth halfen mit folgenden Überlegungen::
Welche Formen von Straßentheater gibt es: Walk Acts, Double, Demonstrationen, Prozession, Aktionen…
Wo können wir spielen: Einkaufszonen, Promenaden, Hinterhöfe, Einfahrten, Liegewiesen, Spielplätze,Kirchplätze, Märkte, Parks, Zebrastreifen, Parkplätze, Unterführungen…
Mit welchen Mitteln können wir für Aufmerksamkeit sorgen (S.181):
Optische Mittel: Kostüme, Fahnen, übergroße Puppen, Stelzengänger, Tücher, ungewohnte Objekte
Akustische Mittel: Blasinstrumente (Trompete, Posaune, Saxophon), Trillerpfeifen, Tambourins, Rasseln, Trommeln, Akkordeon, Topfdeckel
Spielerische Mittel: Slow motions, Statuen, Freezings, Rotationen, Sprünge, Gruppen- und Massenbewegungen, Gegenrichtungen, Zick-Zacks
6. Und jetzt geht es erst richtig los:
Die Autoren entwerfen eine Liste zur Grundausstattung fürs Theatermachen.
Sie beschreiben die fortgeschrittene Werkstatt II: Objekte bauen, Akrobatik lernen, Kostüme entwerfen.
Schließlich gibt es noch Exkurse ins Projektmanagement und Hinweise zur Professionalisierung.
Es gibt noch einen Nachfolgeband (Theater grenzenlos. Handbuch für Spiele und Programme), der für mich persönlich aber nicht mehr so recht den Zauber des ersten Moments und diese unbändige Spiellust ausstrahlte.
Die beiden Autoren gibt es heute immer noch.
Horst Schroth ist ein vielfach ausgezeichneter Kabarettist im „St.-Pauli-Theater“ in Hamburg, war dazu oftmals Gast in „Scheibenwischer“ oder den „Mitternachtsspitzen“ und lebt heute am Stadtrand von Hamburg
Michael Batz ist ein beeindruckender und mit vielen Preisen geehrter Szenograf, Lichtkünstler und Publizist in Hamburg.
Uns – das Theater Mäanda – gab es immerhin 10 Jahre bis 2003.
Das Handbuch für Freies Theater ist inzwischen nur noch antiquarisch/ gebraucht erhältlich. Ehrlich gesagt habe ich natürlich keine Ahnung, wie ich heute solch ein Projekt (Straßentheatergruppe o.ä.) auf die Beine stellen würde, und vielleicht ist manches an diesen vorgestellten Methoden auch altmodisch – ich fand die Herangehensweise jedenfalls damals sehr fundiert und motivierend – wie man sieht…